Zivilcourage

Graffity an einer Holzwand

Wie steht es um Ihr Verantwortungsgefühl? Wie reagieren Sie, wenn jemand in Ihner Nähe beleidigt, bedroht, genötigt, belästigt oder gar verprügelt wird? Sind Sie bereit, anderen zu helfen, wenn sie in die Enge getrieben werden? Auch wenn Ihnen daraus möglicherweise Nachteile entstehen oder Gefahr droht? Schauen Sie lieber weg, vielleicht aus Angst, etwas falsch zu machen? Sind Sie feige? Sie wären in schlechter Gesellschaft. Das Münchner Institut für Recht und Wirtschaft fragte Menschen zwischen 16 und 76, ob sie je Zeuge einer Gewalttat waren. Alle antworteten mit ja. Ob sie geholfen hätten? 86 Prozent sagten nein. Und die meisten waren unsicher, ob sie dies künftig ändern würden.

Die Gleichgültigkeit und Ungerührtheit, mit der die ganz alltägliche Gewalt in unserem Land, die Zerstörungswut gegen Dinge und die Hatz auf Menschen hingenommen werden, lassen schon den Schluss zu, dass wir eine Gemeinschaft von Wegguckern und Feiglingen sind. "Eine Gesellschaft von Gaffern", wie Renate Kingma in der Zeitschrift "Psychologie heute" vermutet, "die tatenlos einem Verbrechen zugucken, als wäre es ein Fernsehfilm." Nein, Zivilcourage hat keine Konjunktur. Zivilcourage. Für die Münchner Studentin Sophie Scholl, die später von den Nazis hingerichtet wurde, war sie "kein plötzlicher Ausbruch von Mut, sondern eine Lebensweise, die das Dasein menschlicher macht". Das Wort kommt aus dem Französischen und bedeutet Überwindung von Ängstlichkeit in alltäglichen Situationen ­ trotz möglicher ungünstiger Nachwirkungen. Es stand ursprünglich für die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, Landesgrenzen und Nation gegen einen äußeren Feind zu schützen. Kanzler Otto von Bismarck wendete den Wortsinn, als er sagte: "Mut auf dem Schlachtfeld ist bei uns Gemeingut, aber Sie werden nicht selten finden, dass es ganz achtbaren Leuten an Zivilcourage fehlt."

Heute mehr denn je. Erwägungen, ob es etwas bringt, wenn ich mich einmische, sind neben Angst und Egoismus häufig Grund, sich rauszuhalten. Nur nicht behelligt werden, nichts damit zu tun haben. Lieber den Bürgersteig wechseln. Dass unterlassene Hilfeleistung bestraft werden kann, ist vielen gar nicht bewusst. Zivilcourage ist gefragt, wenn Toleranz, die den guten Umgang auch mit Andersdenkenden gewährleistet, in Desinteresse umkippt und die gegenseitige Wahrnehmung verblassen lässt. Sie setzt Entschlossenheit und Unerschrockenheit voraus. Und wenn "zum Bild der Rettung auch der feste, scheinbar brutale Zugriff gehört", wie Walter Benjamin einst feststellte, so verliert die Zivilcourage doch das Prinzip Gewaltlosigkeit nicht aus dem Blick. Sie ist stark in der Sache, jedoch sanft in der Form. Dies erfordert Übersicht und Besonnenheit. Fingerspitzengefühl ist nützlich, Heldentum fehl am Platz. Der Mut, der so viele Gesichter haben kann, führt sonst auf
direktem Weg ins Krankenhaus. Unter dem Motto "Stoppt das Vogel-Strauß-Syndrom" hat die Opferschutzorganisation "Weißer Ring" in einer bundesweiten Informationskampagne mit Kinospots, Postkarten und Abteilplakaten in der
Bahn gefordert, das Nichteinschreiten in Gefahrensituationen öffentlich stärker zu ächten. Und mit dem Slogan "Wer nichts tut, macht mit" warb die Hamburger Polizei jüngst für mehr Bereitschaft, dazwischenzugehen, wo immer Menschen angemacht, ungerecht behandelt, gedemütigt, vergewaltigt werden.

Promis aus dem Showbusiness unterstützten die ungewöhnliche Aktion. Nötig war sie allemal. Gewiss, es gibt die  fünfzehnjährige Nina, die in Berlin den epilepsiekranken Freund durch ein beherztes "Lasst den Jungen in Ruhe" vor
pöbelnden Jugendlichen schützt. Oder den 36-jährigen Chefdirigenten eines Bundeswehrorchesters aus Amelinghausen, der einem Schüler gegen eine Horde scheinbar grundlos wild gewordener Halbstarker beisteht und dabei sein Leben riskiert. Oder den Busfahrer in Potsdam, der zwei junge Afrikaner gegen fünf betrunkene Skinhedas verteidigt. Nach dem Hamburger Feldzug ergab eine Umfrage, dass jeder zweite Bürger bei Gewalttaten als Zeuge aussagen würde. Immerhin. Aber die Kultur der Zivilcourage muss noch reifen.

Hans-Albrecht Pflästerer