Gerechtigkeit

Menschenkette auf einem Bergrücken

 Sind Sie gerecht? Oder neigen Sie zur Selbstgerechtigkeit? Was überhaupt ist Gerechtigkeit? Herrscht sie dort, wo geltende Gesetze geachtet und ihre Übertretungen bestraft werden? Beruht sie darauf, dass niemand bevorzugt oder benachteiligt wird, dass alle gleiche Chancen haben und gleicht Maßstäbe gelten? Und wie kann sie eine verlässliche Basis gewinnen?

Lebensart Gerechtigkeit. Ungerecht behandelt zu werden empfinden wir als ärgerlich. Es tut auch weh. Es liefert uns aus, macht und hilflos. Wir fühlen, wie ideal es wäre, in einer gerechten Welt zu leben. Und erfahren doch täglich, dass unsere Anstrengungen scheitern. Auch müssen wir damit leben, dass unser Gerechtigkeitssinn ständig verletzt wird. Zu den groben Ungerechtigkeiten wir Krieg und Vertreibung, politische Verfolgung und Folter, Ausbeutung, Armut, Arbeitslosigkeit, Zugehörigkeit zu einer niedrigen sozialen Schicht, mangelhafter Begabung und körperlicher Behinderung, schwerer Krankheit, sexuellem Missbrauch und dem Schicksal der Scheidung gibt es eine Vielzahl feiner gewirkter Störungen des gerechten Lebens und Handelns: Untreue und Verrat, Verachtung und Beleidigung, Demütigung und Betrug. Auch wer jemanden erpresst, verängstigt oder vertröstet, nichts lernen lässt oder ausweist, darf sich nicht zu den Gerechten zählen. "Der Mensch", so bündelt der Berliner Psychoanalytiker Horst Petri seine Erfahrungen, "müsste eine Elefantenhaut besitzen, um nicht täglich die Verletzungen zu spüren, die seinem Gefühl für Gerechtigkeit und seinem Selbstwertgefühl zugefügt werden."

Ein biblischer Psalm nährt die sinnliche Vision, dass Friede und Gerechtigkeit eines Tages einander küssen werden. Freilich, das Land, in dem dies geschieht, ist noch nicht da. Aber immer wieder hat es bemerkenswerte Menschen gegeben, die sich der Herausforderung einer Verwirklichung von rassischer und ökonomischer Gerechtigkeit stellten, wie der amerikanische Bürgerrechtler Martin Luther King oder der Brasilianer Helder Camara, den sie den Bischof oder Bruder der Armen nannten. Sie haben ihren Eifer für eine gerechte Zukunft gelegentlich mit dem Leben bezahlt. In der Nähe von Jerusalem findet sich der "Hain der Gerechten", in dem jener gedacht wird, die Menschen schützten, welche unter der Herrschaft des Unrechts bedroht waren. Fellowship of Reconciliation, ein amerikanischer Versöhnungsbund mit Sitz in New York, engagiert sich für sinnvolle Arbeit und einen Lohn, der zum Leben reicht, für alle; er möchte ein Einkommen gewährleistet sehen, das angemessene Nahrung und Kleidung, medizinische Versorgung und Erholung gewährleistet, ein würdiges Zuhause für jeden und jede, die Anerkennung des Wertes unbezahlter Hausarbeit, allgemeine Bildung und Kinderbetreuung von gleicher Qualität für alle Familien; auch müht er sich um den Schutz vor ökonomischen Ängsten infolge von Alter, Krankheit, Unfällen oder Arbeitslosigkeit. In diesem Jahr inspiriert die prophetische Vision des Erlassjahrs Christinnen und Christen in über 40 Gläubiger- und Schuldnerländern zu ihrem Engagement für einen Neuanfang ohne erdrückende Schuldenlast bei den Armen dieser Erde.

"Auf dem Weg der Gerechtigkeit ist Leben" lautete 1997 das Motto des Leipziger Kirchentages Zwei Jahre später in Stuttgart gab es einen Pilgerweg als Sinnbild des Aufbruchs in eine gerechte Welt. Seit den achtziger Jahren schon ist ein konziliarer Prozess auf Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung aus. Soll heißen: Es gibt einen Votrupp der Gerechtigkeit. Aus nüchternen und unbestechlichen Menschen mit Großmut und Augenmaß, die an den "Wällen der Gerechtigkeit bauen, an denen sich die Welle des Unrechts bricht", wie der Theologe Wolfgang Dietrich formuliert. Sie könnten Menschen, Tieren und Pflanzen, der Erde überhaupt zu ihrem Recht verhelfen Wir haben sie bitter nötig. Denn sie machen die Erde noch nicht menschlich, aber menschlicher.

Hans-Albrecht Pflästerer