Wachsamkeit

Ein Murmeltier wacht

Sind Sie wach? Durchschauen Sie Menschen und Dinge? Hat Ihre Kritik mit Wachsamkeit zu tun? Nimmt Ihre Wachsamkeit zu oder ab, wenn Sie sich selber beobachten? Weicht sie der Resignation? Wachsamkeit. An manchen Menschen faszinieren ihre blitzwachen Augen. Wer wach ist, schützt sich vor Illusionen. Und nichts, meint der amerikanische Kulturkritiker Aldous Huxley, bewahre uns so gründlich vor Illusionen wie am Morgen ein Blick in den Spiegel. Überhaupt kann ein guter Schuss Misstrauen nicht schaden. Nicht nur gegen Parolen. Die Natur kann uns lehren, was Wachsamkeit ist. Die Katze, die eine Maus wittert. Die Löwin, die ihr Junges vor Feinden schützt. Zu wachen, im Glauben zu stehen und stark zu sein, fordert das Neue Testament von uns. Da sind Mut und Disziplin gefordert. Auf Patrouille wie am Krankenbett. Bilder und Gleichnisse preisen die Wachsamen selig. Von Gott, dem Hüter Israels, steht im Alten Testament, dass er nicht schläft noch schlummert. Das zielt auf Achtsamkeit und Verbindlichkeit ab, die man Geschwister der Wachsamkeit nennen könnte. Und welche Zuversicht spricht aus dem Psalmvers: "Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten."

Manche werden dafür besoldet, dass sie wachsam sind: Der Grenzschützer etwa und auch der Soldat. Und vom Nachtwächter gibt es viele und schöne Geschichten. Wachsamkeit erfordert Konzentration. Wer beim Autofahren Radio hört, mit dem Handy herumfuchtelt und dabei noch auf den Verkehr achten will, mutet seinem Gehirn einiges zu. Aus der Welt der Computer stammt der Begriff "Multitasking", er meint das gleichzeitige Ausüben mehrerer Tätigkeiten. Aber ein Mensch ist keine Maschine, das menschliche Gehirn ist dafür nicht ausgerüstet. Weshalb, wie der Münchner Physiologe Ernst Pöppel feststellt, mehrere Dinge gleichzeitig nicht mit derselben Konzentration bewältigt werden können. So rät der Professor vom mentalen Multitasking auch ab. Dieser moderne Lebensstil führe nur zu gedanklicher Hektik, nicht aber zu schnellerem Denken. Ein junger Mann fragt einen Rabbi, was er tun könne, um die Welt zu retten. Der Weise antwortet: "So viel, wie du dazu beitragen kannst, dass morgens die Sonne aufgeht." Was dann all seine Gebete, seine guten Taten und sein Engagement nützen, möchte der junge Mann wissen. Darauf sagt der Weise: "Sie helfen dir, wach zu sein, wenn die Sonne aufgeht."

Wach sein, wenn die Sonne aufgeht. Das kann auch heißen, nicht einfach weiter zu schlafen, als wäre nichts geschehen und als könnte auch in Zukunft nichts anderes als das Gewohnte wieder und wieder geschehen. Und es kann heißen, den Lügner zu durchschauen, den der Dichter Erich Fried durchschaut, indem er zu den Kindern sagt: "Fürchtet euch nicht vor dem Schwarzen Mann. Es gibt keine Schwarzen Männer." Als Wachsamkeit der Seele gegen die Kräfte der Zerstörung hat Gabriel Marcel einmal die Dankbarkeit bezeichnet. "Übernehmt nichts, ohne es zu prüfen", schreibt der Schriftsteller Horst Bienek, "nicht die Wörter und nicht die Dinge, nicht die Rechnung und nicht das Fahrrad, nicht die Milch und nicht die Traube, nicht den Regen und nicht die Sätze. Fasst es an, schmeckt es. Dreht es nach allen Seiten, nehmt es wie eine Münze zwischen die Zähne. Hält es stand? Taugt es? Seid ihr zufrieden?"

Hans-Albrecht Pflästerer