Ehrfurcht

Soldaten errichten Birkenkreuz für einen Feldgottesdienst

Empfinden Sie Ehrfurcht? Und wovor? Was macht den Unterschied zwischen Respekt und Ehrfurcht aus? Macht der Zusammenhang von Ehre und Furcht in einem Wort Sinn? Geht Ehrfurcht aus der Furcht hervor? Hat sie mit Achtung zu tun? Mit Größe gar? Oder ist der Begriff Ausdruck einer autoritären Denkweise, die Sie für überholt halten?

Ehrfurcht. Klingt altbacken. Irgendwie scheint sie tatsächlich aus der Mode. Der Duden führt diese Tugend zwischen Ehrerbietung und Ehrgeiz. Aber dem nagelneuen, bald neunhundertseitigen Evangelischen Erwachsenenkatechismus ist sie kein Stichwort wert. Dabei entstammt das Wort, das die Furcht mit der Ehre verbindet, dem religiösen Bereich. Es steht für eine Haltung, in der man noch etwas wahrnimmt, für das der Ehrfurchtslose blind ist: das Geheimnis der Dinge und die Werte ihrer Existenz. Für die Empfindung, dass etwas heilig-unnahbar ist. Für die Erfahrung des Hohen, Mächtigen und Herrlichen, des Jenseitigen letztlich. Des Einzigartigen auch. “So ein Spinnentüchlein voll Regentropfen ­ wer macht das nach?", fragt der Dichter Christian Morgenstern. Der Schriftsteller Peter Handke sagt es etwas derber: "Du musst dich hinabbeugen zu den Dingen; zu hochgewachsen bist du für die Schöpfung, Menschenaffe."

Von Franz von Assisi, dem italienischen Ordensstifter, wird erzählt, er habe kleine Würmer vom Weg aufgelesen, damit sie nicht von den Füßen der Vorübergehenden zertreten würden. Er habe Lampen, Leuchten oder Kerzen nicht angerührt, weil er mit seiner Hand ihren Glanz nicht entstellen wollte. Den Bienen habe er Honig und guten Wein geben lassen, damit sie in der Kälte des Winters nicht umkämen. Man hat ihn dafür der taubenhaften Einfalt bezichtigt. Aber wird man ihm damit gerecht?

Unermüdlich hat der Arzt und spätere Träger des Friedensnobelpreises, Albert Schweitzer, im Urwaldhospital Lambarene die Ehrfurcht vor dem Leben gepredigt. Seine Formel: "Leben inmitten von Leben, das leben will". In seinem Inspirationsbuch "Fünfzig Engel für das Jahr" traut Anselm Grün, Verwalter der Benediktinerabtei Münsterschwarzach, einem "Engel der Ehrfurcht" zu, auf einer Party das Klima des Klatsches in eine Atmosphäre der Achtung zu verwandeln, in einem Parlament die verletzenden Vorwürfe zum Verstummen zu bringen und sie als unanständig zu entlarven, in einer Gemeinschaft die Neugier verebben zu lassen, in die Geheimnisse jedes einzelnen eindringen zu wollen. Es brauchte bei vielen Gelegenheiten Engel der Ehrfurcht, die die Intimit&ät schützen und die Neigung zu Sensationsgier und Zynismus in Respekt vor der Würde des Menschen verwandeln.

"Die Ehrfurcht", so Anselm Grün, "schafft eine Atmosphäre von Feingefühl, Zartheit und Lebensschutz." Die ist auch bitter nötig. Denn solange die Erde steht, wird das Leben zwar immer kostbar sein, aber immer auch gefährdet und bedroht.

Für den Religionsphilosophen Romano Guardini beginnt alle wirkliche Kultur damit, dass ein Mensch ehrfürchtig zurücktritt, dass er der Person ihre Würde lässt und dem Werk seine Schönheit. Der Tübinger Theologe Hans Küng sieht in der maßgeblich von ihm beeinflussten, vom "Parlament der Weltreligionen" schon 1993 formulierten "Erklärung zum Weltethos" eine unverrückbare Weisung in Selbstverpflichtung zu einer Kultur

  • der Gleichberechtigung und der Partnerschaft von Mann und Frau,
  • der Toleranz und eines Lebens in Wahrhaftigkeit,
  • der Solidarität und einer gerechten Wirtschaftsordnung,
  • der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben.


Dafür bleibt noch viel zu tun. Doch es lohnt jede Anstrengung, diesen Zukunftsentwurf entschieden zu verwirklichen. Denn am Leben sein heißt noch nicht leben.

Hans-Albrecht Pflästerer