Gewaltlosigkeit

Menschenkette auf einen Bergrücken

Sind Sie sicher, ein friedlicher Mensch zu sein? Zu welcher Art von Gewalttätigkeit neigen Sie am ehesten? Nehmen Sie alles so hin, wie es kommt? Oder setzen Sie auf die Möglichkeit, gewaltlos Widerstand zu leisten? Welche Möglichkeiten sehen Sie? Haben Sie selber schon Gewalt erfahren? Gewaltfrei leben. Das wäre paradiesisch. Aber ist es nicht eher utopisch? Tag für Tag lesen sich die Nachrichten wie Protokolle allgegenwärtiger Gewalt: in Kriegen und Bürgerkriegen, vor Asylantenheimen, vor Wohnungen ausländischer Mitbürger, auf Schulhöfen, im Leistungssport, im Straßenverkehr. Gewalt ist so präsent, dass es scheint, sie gehöre zum Leben. Natur, Dinge und Menschen erleiden sie gleichermaßen: Frauen und Fremde, Kinder und Alte, Lehrer und Schüler, Missbrauchte und Ausgebeutete. Die Menschheitsgeschichte ist auch eine Geschichte der Gewalt. Die aber ist wie eine Seuche. Terror und Folter, Vertreibung und Verstümmelung in unseren Tagen machen deutlich: Gewalt hat 1000 hässliche Fratzen: Ohrfeigen und Schläge, böse, verletzende Worte, tagelanges Schweigen, Sperren von Geldmitteln, einsame Entscheidungen über andere hinweg, Liebesentzug, Tyrannei durch Launenhaftigkeit, Verweigerung von Hilfe oder Einschüchterung durch körperliche und geistige Überlegenheit. Für den amerikanischen Wissenschaftler Isaac Asimov ist Gewalt “die letzte Zuflucht des Unfähigen“. Sie entstellt alles Menschliche. Sie tötet.

Es steht nicht gut um eine Gesellschaft, die so unkontrollierte Gewaltpotentiale freisetzt. Da sind nicht nur die vordergründigen und offenen Aggressionen, sondern auch die versteckten und schwer zu durchschauenden Formen von Gewalt, die sich in Gerüchten, Vorurteilen und Klischees äußern. Oder Menschen brandmarken, indem sie sie zu Sündenböcken machen. “Gewalt ist ansteckend wie Cholera“, findet der Psychiater Friedrich Hacker. “An Gewalt kann man sich gewöhnen.“ Das wäre schlimm. Was aber tun? Wer kann noch verarbeiten, womit wir ständig hautnah konfrontiert werden? Wie finden sich Wege aus der Spirale der Gewalt? Mahatma Gandhi, Lichtgestalt und Vorkämpfer für Gewaltlosigkeit, stellte einst fest: “Gewaltfreiheit ist der Gipfel der Tapferkeit. Ich hatte keine Schwierigkeiten, Leuten, die in der Schule der Gewalt aufgewachsen waren, die Überlegenheit der Gewaltfreiheit zu beweisen. Als Feigling, der ich jahrelang war, hielt ich mich an Gewalt. Ich begann Gewaltfreiheit erst zu schätzen, als ich meine Feigheit aufgab.“ Sein Mut kostete ihn das Leben. Gandhi wurde ermordet.

Dass wir Gewalt in ihren vielen garstigen Facetten derzeit bewusster wahrnehmen, ist sehr den Kirchen zu danken. Die haben das Bewusstsein dafür geschärft, dass vor allem Frauen unter körperlicher und seelischer Gewalt bitter zu leiden haben. Der Ökumenische Rat der Kirchen hat 1998 in Simbabwe eine Dekade zur Überwindung von Gewalt ausgerufen, sie hat in diesem Jahr begonnen. Ihr verdanken wir fantasievolle Initiativen, die soziale Brennpunkte in Ballungszentren dieser Erde befrieden sollen. Sie wollen Menschen aus ihrer Verzweiflung befreien. Das ist auch nötig: Verzweifelte wenden zur Durchsetzung ihrer Ziele verzweifelte Mittel an. “Jede Gewalt trägt in sich den Keim des Bösen“, schrieb Altbundeskanzler Helmut Schmidt einmal. Um dem Bösen zu begegnen, müssen sich Zivilcourage, Entschlossenheit, Fairness und Unerschrockenheit verbünden. Lichterketten sind gut, aber Kampagnen sind besser. Die des mittelrheinischen Fußballverbandes etwa: “Friedlich miteinander!  Der Gewalt die rote Karte.“ Oder die des nordrhein-westfälischen Landesjugendrings: “Hinsehen auf täglichen Rassismus.“ Es sind kleine Schritte gegen Tritte. Und nur in kleinen Schritten kommen wir auf dem Weg zur Gewaltlosigkeit voran.

Hans-Albrecht Pflästerer