Selbsterkenntnis

Frauengesicht in einem Spiegel

Seit wann kennen Sie sich? Erinnern Sie sich, wann und wo Sie sich besser kennen gelernt haben? Was war der Auslöser? Fanden Sie das ärgerlich oder bereichernd? Wo sollten Sie sich mehr auf die Schliche kommen? Welche Bedeutung haben Spiegel in Ihrem Leben? Was über sich wollen Sie lieber gar nicht erst wissen? Behalten Sie Ihre Selbsterkenntnis für sich? Reden Sie darüber? Und mit wem?

Selbsterkenntnis meint das Auffinden und Kennen lernen der eigenen Persönlichkeit und ihrer Strukturen, meist verstanden als ein rückgewendeter Prozess der Selbstfindung oder der Selbstbesinnung. Sie setzt Klugheit voraus und die Fähigkeit, Menschen und Dinge wahrzunehmen. Mit Aufmerksamkeit kommt man ihr näher. Nichts zu wissen und des Nachdenkens zu bedürfen, um schlauer zu werden, stellte der Grieche Sokrates einst in den Mittelpunkt seiner Philosophie. “Erkenne dich selbst!“, lautet die Inschrift über dem Tempel von Delphi. Und für die Väter der frühen Kirche war Selbsterkenntnis der einzig gangbare Weg zu Gott.
In einer seiner geistvoll-ironischen Spruchweisheiten meinte der Naturwissenschaftler Georg Christoph Lichtenberg einmal, lernen, sich selbst zu prüfen und zu belehren, habe viele Bequemlichkeiten und sei nicht so gefährlich wie sich zu rasieren. Aber hat er Recht? Gehört nicht Mut, gar Größe dazu, Fehler einzugestehen, Ehrlichkeit, die eigenen Grenzen zu erkennen und Schwäche zuzulassen? Die Erfahrung, dass man sich selbst fremd geblieben ist, kann schmerzen. Und die Einsicht, dass man oft genug im Leben gern eine ganz andere oder ein ganz anderer wäre, macht betroffen. Oder dass man mehr Zeit für sich hätte, mehr leben möchte, statt gelebt zu werden. Das ist ja alles andere als spaßig.

Es ist auch leichter, abwehrend auf andere zu zeigen, als sich an die eigene Nase zu fassen. “Zu meinem Leidwesen hat mein Spiegelbild nichts zu lachen“, schreibt Eva Zeller in ihrem Gedicht “Morgentoilette“. “Auge, das mir die Stirn bietet. Mund, der mir die Zähne zeigt. Hand, die die andere wäscht. Die Kälte des Wassers treibt mir das Blut ins Gesicht.“ Und wer mag allzeit behaupten, er könne noch immer in den Spiegel schauen, ohne schamrot zu werden?

Es gibt diese schöne Geschichte des Rabbi Chanoch von Alexander: “Es war einmal ein Tor. Am Morgen beim Aufstehen fiel es ihm immer so schwer, seine Kleider zusammenzusuchen, dass er am Abend, daran denkend, oft Scheu trug, schlafen zu gehen. Eines Abends fasste er sich ein Herz, nahm Zettel und Stift zur Hand und verzeichnete beim Auskleiden, wo er jedes Stück hinlegte. Am Morgen zog er wohlgemut den Zettel hervor und las: "Die Mütze" ­ hier war sie, er setzte sie auf. "Die Hosen", da lagen sie, fuhr er fort, bis er alles anhatte. "’Ja aber, wo bin ich denn?", fragte er sich nun ganz bang,"wo bin ich geblieben?" Umsonst suchte und suchte er, er konnte sich nicht finden.“ “So geht es uns“, sagte der Rabbi.

Als er nach der Bilanz seines Lebens gefragt wurde, meinte der 85-jährige Jorge Luis Borges: “Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, würde ich versuchen, mehr Fehler zu machen. Ich würde nicht so perfekt sein wollen, ich würde mich mehr entspannen. Ich wäre ein bisschen verrückter, als ich es gewesen bin. Ich würde viel weniger Dinge so ernst nehmen. Ich würde mehr riskieren, würde mehr reisen, Sonnenuntergänge betrachten, mehr bergsteigen, mehr in Flüssen schwimmen Wenn ich noch einmal leben könnte, würde ich von Frühlingsbeginn an bis in den Spätherbst hinein barfuß gehen. Und ich würde
mehr mit Kindern spielen.“

Hans-Albrecht Pflästerer