Verschwiegenheit

Bildliche Darstellung des Gerüchtanwachsens

Können Sie schweigen? Oder klatschen Sie gern? Tut es Ihnen weh, sich auf die Zunge zu beißen? Wie schwer tragen Sie an Geheimnissen? Fällt Ihnen das Schweigen heute leichter als früher? Haben Sie durch Verschwiegenheit Freunde gewonnen ­ oder verloren?

Dass Reden Silber sei, Schweigen aber Gold, gehört zu den bekanntesten deutschen Volksweisheiten. “Wenn du geschwiegen hättest, wärst du ein Philosoph geblieben“, lautet eine lateinische. Mit vielen Worten nichts zu sagen, hielt Martin Luther für die größte Torheit. “Der Specht befragt die Bäume. Die hohlen sprechen laut“, weiß Erwin Strittmatter. Und so ist Gotthold Ephraim Lessings literarische Einsicht “Wer schweigt, ist dumm. Drum sind das dümmste Vieh die Fische“ erst einmal nur eine ziemlich boshafte Provokation.

“Schweigen wie ein Grab“ ist auch so ein geflügeltes Wort. Nicht alles an die große Glocke hängen. Also Dinge für sich behalten, die man in Erfahrung gebracht hat oder die einem zugetragen wurden. Vertrauen und Verlässlichkeit sind schnell verspielt und zerstört. Manches wird erst in der Verschwiegenheit vernehmbar. Dass etwa Freundschaft, Liebe und Pietät geheimnisvoll behandelt werden sollten, wusste schon Novalis, der bedeutendste Lyriker der deutschen Frühromantik. “Man sollte nur in seltenen, vertrauten Momenten davon reden, sich stillschweigend darüber einverstehen. Vieles ist zu zart, um gedacht, noch mehr, um besprochen zu werden.“

Freilich: Es gibt auch das taktische Schweigen. Oder das einträgliche. Da sind die Situationen, die Sprichwörter umkehren, in denen Reden Gold und Schweigen Silber wäre. Wo die Wahrheit an den Tag müsste. Wo dem Unrecht, der Verdächtigung zu widersprechen wäre. Oder dem Gerücht. Nicht immer schreit, wer schweigt. Oft stimmt er zu.

Nun ist die Gabe der Verschwiegenheit bei weitem nicht so hoch entwickelt wie die gelegentlich schon teuflische Neigung, durch Klatsch und Tratsch Spekulationen freizusetzen. Erst einmal im Umlauf, wächst und wächst das Gerücht. Es gleicht einem aufgeschlitzten Sack, aus dem die Federn entweichen. Sie sind nicht mehr zurückzuholen. “Worte können sein wie winzige Arsendosen“, schrieb der Romanist Victor Klemperer einmal, “und nach einiger Zeit ist die Wirkung da.“ Worte als Gift auf Raten. Die Gabe der Verschwiegenheit: “Ich weiß nicht, wie es sagen“, schreibt Juan Ramón Jiménez schon 1936, “denn noch immer hab ich es nicht: mein schweigsames Wort.“

Hans-Albrecht Pflästerer