Treue

Zwei Liebende als Zeichen der Treue

Sind Sie treu? Ist Treue für Sie eine Frage der Disziplin oder der mangelnden Gelegenheit? Ist sie ein Geschenk oder eher eine Last? Kennen Sie das Gefühl, sich um keinen Preis selber untreu werden zu wollen? Wem soll die Treue gelten? Dient sie dem Leben? Wo hat sie ihre Grenzen? Vielleicht haben Sie das auch noch gelernt: "Üb immer Treu und Redlichkeit / Bis an dein kühles Grab / Und weiche keinen Finger breit / Von Gottes Wegen ab." Schön altmodisch. Und ziemlich an der Wirklichkeit vorbei. Wo man doch gerne mit seinen Affären prahlt, Fremdgehen zum Selbstverwirklichungstrip gehört und Agenturen den Seitensprung propagieren. Dass der Mensch nicht scheiden soll, was Gott zusammengefügt hat, ist nicht einmal mehr in der Kirche einhellige Meinung. Längst gibt es Scheidungsgottesdienste, und die Trennungsliturgie liegt griffbereit in der Schublade.
Treue. "Das Wort ist zerborsten", findet der Theologe Wolfgang Dietrich. "Sein Inhalt ist in tausend Splitter zerfetzt." Ein 25-jähriger Medienstar gibt seiner leicht älteren Gespielin schon mal den Laufpass mit den Worten, er sei ein Lover und kein Altenpfleger. Früher, spottet der Journalist Christian Nürnberger, lebten die Leute nicht so lange wie heute. Da umfasste die Treue bis zum Tod nur eine kurze Zeitspanne. Das ließ sich aushalten. Es gab viel Arbeit und wenig Urlaub, da blieb für das Bäumchen-wechsle-dich-Spiel gar keine Zeit. Heute kokettieren die Leute mit ihren Lebensabschnittspartnerschaften, leben bindungslos zusammen, solange es geht. Motto: "Wenn's nicht mehr geht, stehen keine falschen Versprechen zwischen uns, und wir haben einander nichts vorzuwerfen. Von morgens bis abends erfahren wir, dass Leben Veränderung ist, Abwechslung, Unbeständigkeit. Wir kaufen uns zweimal im Jahr neue Kleider, alle vier Jahre ein neues Auto. Wir wechseln den Wohnort, den Beruf, das Unternehmen ­ und nur den Ehepartner nicht?" Praktikabel, ehrlich und wenigstens kompatibel mit unseren modernen Zeiten nennt Nürnberger diese weit verbreitete Lebensform. Um mit der Frage nachzusetzen: "Wäre Treue bis
in den Tod nicht doch auch schön, ziemlich unkonventionell, ja geradezu cool?"

Nicht nur cool. Sie wäre überhaupt eine prima Alternative. "Nach vielen mühseligen Gesprächen kamen wir immer wieder zu demselben Schluss: Unsere Ehe bleibt!", schreibt einer. "Das Versprechen, das wir bei der Hochzeit gaben, soll gelten, bis der Tod uns scheidet. Wir meinten, eine Trennung wäre eine Flucht. Auch mit einem anderen Partner hätten wir bald diese oder
ähnliche Schwierigkeiten. Uns erschien es besser und verheißungsvoller, gemeinsam neu anzufangen." Manche sind der Auffassung, ein gebrochenes Versprechen sei ein gesprochenes Verbrechen. Wer treu ist, legt sich auf Zukunft hin fest, hält die in der Vergangenheit eingegangene Bindung über die Zeiten hinweg selbst unter veränderten Bedingungen durch. Aber kann dies eingefordert werden, wenn sich der Partner verändert hat oder ich selbst anders geworden bin ­ durch Alkohol, Krankheit, kriminelle Taten, den Wechsel des Berufs? Freilich: Treue ist mehr als Verlässlichkeit in einer Partnerschaft, die Erfahrungen teilt, woraus sich viel Lebensgewinn ergibt. Für den lateinamerikanischen Theologen Leonardo Boff zeigt sie sich im Bestreben,
"täglich etwas besser zu werden, anspruchsvoll in der Geduld mit uns selbst und mit den anderen, stark im Ertragen der Widersprüche und weise, um aus ihnen zu lernen". Und für den Theologen und Psychotherapeuten Eugen Drewermann ist es das Wichtigste, das eigene Wesen zu finden und ihm treu zu bleiben. "Nur auf diese Weise dienen wir Gott ganz, dass wir begreifen, wer wir selbst sind, und den Mut gewinnen, uns selbst zu leben."

Spätestens, wenn wir Opfer der Untreue geworden sind, wissen wir, was  Treue bedeutet. Welche Verletzungen es nach sich zieht, wenn sie gebrochen wird. Aber selbst dann noch verlangen wir nach einem Leben jenseits des Treuebruchs. "Vielleicht", meint Wolfgang Dietrich, "wird dieses Verlangen zum ersten Schritt. Denn Treue beginnt mit den kleinen Dingen und Gesten und Sätzen des Alltags."

Hans-Albrecht Pflästerer