Güte

Frauen als Zeichen der Bejahung des Mitmenschen

Ertappen Sie sich gelegentlich bei dem Ausruf “Du liebe Güte!"? Kommt das Wort Güte auch sonst in Ihrem Wortschatz vor? Woran mag es liegen, dass kaum jemand auf die Güte verfällt, wenn Tugenden abgefragt werden? Hat Güte mitGutmütigkeit zu tun? Sind Sie gutmütig? Warum wird Güte selten mit Jugend, oft aber mit Alter in Verbindung gebracht? Oder ist das nur ein Klischee? Wir kennen das Gütesiegel für einen besonders erfrischenden Einfall, etwa zur Schaffung von Arbeitsplätzen. Waren werden nach Güteklassen sortiert. Und der Vorschlag, sich in Güte zu einigen, spart Nerven und Kosten. Aber Güte als Lebensart?

Güte. Für Wilhelm Weischedel ist sie die behutsame Bejahung des Mitmenschen und deshalb mehr als Toleranz. “Sie öffnet dem anderen den Raum, in dem er in seinen wesentlichen Möglichkeiten leben kann. Sie ist auch, mehr als noch die Großmut, zum Verzeihen fähig, selbst da, wo wir ernsthaft gekränkt worden sind oder wo der andere sich in Schuld uns gegenüber verstrickt hat." Fingerspitzengefühl, Mäßigung oder Ehrfurcht werden gern als verwandte Tugenden benannt.

Die Bibel, vor allem die Psalmen, und auch so manches Kirchenlied preisen die Güte Gottes: “Herr, deine Güte reicht, so weit der Himmel ist, und deine Wahrheit, so weit die Wolken gehen" (Psalm 36). Der Betende rühmt Gott, bei dem er sich geborgen und mit den Gütern des Lebens reich beschenkt findet. Beim Einzug in den Tempel sang die Gemeinde gern den Psalm “Danket dem Herrn, denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich." Und die Klagelieder des Propheten Jeremia schreiben es allein der Güte Gottes zu, dass das Volk noch am Leben ist, und machen den Weg für Hoffnung frei. Hoffnung, die auch aus einem Psalm Davids klingt: “Güte und Gnade werden mir folgen alle meine Tage." "Deine Güte tut mehr, als das Meer vermag. Deine Großmut macht keine Versprechen für morgen. Man muss dich um nichts bitten. Niemand bittet die Sonne um Licht", wusste Dschalaluddin Rumi schon im Jahr 1273.

Oft ist Güte Thema von Segenswünschen. “So segne dich der gütige Gott", bittet der lateinische Dichter Sedulius Caelius, und “Güte des Meeres dir, Güte des Landes dir, des Himmels Güte" erfleht ein schottisch-gaelischer Reisesegen.

In seinem Psalter für unsere Zeit hat der Theologe Wolfgang Dietrich eine große Alternative riskiert und darin der Güte Eigenschaften zugeschrieben, die sonst eher als Strahlungen der Liebe gelten. Dass Güte nicht hadert und keinen Unmut sucht. Dass sie das Gelände erheitert. Dass sie sich nicht unterkriegen lässt und souverän wirkt. Dass sie sich niemals irritieren lässt. Er meint auch, dass sie nicht heftig reagiert und testiert ihr einen gelassenen Gang. Unverdrossenheit und guten Mut zählt er zu ihren Vorzügen.
Wiewohl sie sich in der Minderheit weiß, schämt sie sich ihrer kleinen Zahl nicht. “Die Güte lächelt über den kleinen schwarzen Käfer. Sie streicht mit der Hand über das Blatt. Sie begrüßt auch Wolken und Regen." Gegen Schärfe und Schroffheit, Kälte und Abweisung, gegen Hass und Feindschaft, Neid und Missgunst, gegen Brutalität und Grausamkeit, Ungeduld und Hast, gegen Grobheit und Barschheit, Verlogenheit und Arglist ­ allzeit Güte mit ihrem häufigen “Überschuss an überraschender Freundlichkeit". Und sie ist unverzichtbar für das Gespräch der Religionen: “Die Güte lobt auch den anderen Glauben."

“Was nützt die Güte, wenn die Gütigen sogleich erschlagen werden, oder es werden erschlagen die, zu denen sie gütig sind?", hat der Dichter Bertolt Brecht einst gefragt. Aus tiefer Resignation in schlimmen politischen Zeiten. Doch weil sie das Böse mit Gutem und das Gehässige mit Gütigem überwindet (Wolfgang Dietrich), können wir auf Güte nicht verzichten. Gütige
Menschen verwandeln die Welt.

Hans-Albrecht Pflästerer