Ruhe

Stille Andacht vor einem Altar

Haben Sie die Ruhe weg? Oder verfallen Sie schnell in Hektik? Wo ist der Ort, an dem Sie zur Ruhe kommen können? Fällt es Ihnen schwer, etwas auf sich beruhen zu lassen? Wie reagieren Sie auf Menschen, die Ruhe ausstrahlen? Hat Sie die Verbindung von Ruhe und Ordnung schon einmal aus der Fassung gebracht? Halten Sie die Friedhofsruhe aus?

Es gibt eine verbreitete Sehnsucht nach Ruhe. "Lass mich in Ruhe" kann Flucht bedeuten: "Damit möchte ich nichts zu tun haben." Kann aber auch einfach nur ein Bedürfnis artikulieren. "Keine Ruh bei Tag und Nacht, / Nichts, was mir Vergnügen macht. / Schmale Kost und wenig Geld, / Das ertrage, wem es gefällt" hören wir in Wolfgang Amadeus Mozarts "Don Giovanni". Dass wir sie aus eigener Kraft nur schwer finden, weiß schon der Kirchenvater Augustinus: "Unser Herz ist unruhig, bis es ruht in dir." Er meint Gott. "Ruhe sanft!" steht häufiger auf den Grabsteinen. Und dass Gott einem Verstorbenen die ewige Ruhe schenken möge, ist Inhalt vieler Todesanzeigen und Schluss so mancher Trauerrede. Die Dinge ruhen zu lassen, kann eine Kunst sein. Wer in den Stürmen des öffentlichen oder häuslichen Lebens die Übersicht bewahrt, gilt als ruhender Pol. Die Ruhe, die aus der Meditation kommt, macht die Faszination einer Religion wie des Buddhismus aus.

Über den Balsam des Erholens können wir manches aus der Bibel erfahren. Etwa, dass Gott am Ende der Schöpfung, am siebten Tag ausspannte. Es lohnt, darüber nachzudenken, dass die fahrlässige Beschädigung des Sonntags das menschliche Bedürfnis nach Ruhe und Beruhigung mit versehrt. Der Dichter Thornton Wilder meint freilich, dass jener Ruhetag sehr kurz gewesen sein muss, da der Mensch nicht ein Ende, sondern ein Anfang sei: "Wir stehen am Beginn der zweiten Woche. Wir sind Kinder des achten Tages."

Oft wird die Ruhe in die Nähe des Friedens gerückt. Den tiefen Frieden im Rauschen der Wellen, im schmeichelnden Wind, über dem stillen Land und unter den leuchtenden Sternen wünscht eine alte irische Segensformel. Dann wird es schnell lyrisch. Wie bei Gudrun Pausewang: "Ich sehe dem Wasser ebnso gern zu wie ich ihm zuhöre. All diese monotonen Geräusche ­ das Rauschen und Gluckern, das Gurgeln und Plätschern ­ machen mich ruhig. Und ich bestaune die Schönheit der Stromlinien, der sich kräuselnden Wellen, der unter der Wasseroberfläche sich wiegenden Algen, der in allen Farben funkelnden Schaumbläschen." Oder in Joseph von Eichendorffs "Mondnacht": "Sund meine Seele spannte weit ihre Flügel aus, flog durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus."

Wo die Ruhe ist, ist die Liebe nicht weit. Wer Liebeskummer hat, wird die Erfahrung aus Goethes Faust teilen: "Meine Ruh ist hin, / Mein Herz ist schwer, / Ich finde sie nimmer / Und nimmermehr."

Ruhe sei die erste Bürgerpflicht, befand einst der preußische Minister Friedrich Wilhelm Graf von der Schulenburg-Kehnert. Wirklich? So heilsam sie auch ist, da ist doch manches, was uns beunruhigen muss. "Denke ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht", schrieb Heinrich Heine. Inzwischen kommen die Alpträume auch am Tag: Die Zunahme der ganz alltäglichen Gewalt etwa, die systematische Zerstörung des Ökosystems, die berechnende Verseuchung der Kreatur ­ lesen wir Zeitung oder sehen wir fern, dann ist Schluss mit lustig und die Ruhe flugs dahin.

"Ruhe ist die Kraft", hat Erwin Strittmatter festgehalten, "die mir ermöglicht, der Gewalt des Lebens standzuhalten." Gleichwohl ist unser Leben ein Slalom zwischen Ruhe und Unruhe. Für John Steinbeck ist die Kunst des Ausruhens ein Teil der Kunst des Arbeitens. Oder hübsch grotesk, wie Margrit Baur formulierte: "Die Hände im Schoß, bin ich unterwegs."

Hans-Albrecht Pflästerer