Barmherzigkeit

Flugzeug bringt Hilfslieferung

Welche Bilder der Barmherzigkeit kommen Ihnen vor Augen? Verbinden Sie mit Barmherzigkeit eher Schwäche und Weichheit? Wieso ist der Begriff unbarmherzig viel geläufiger als das Wort barmherzig? Was wäre Barmherzigkeit in der Familie, in der Schule, in der Politik, im Beruf, in der Freizeit, bei der Bundeswehr? Ist sie dort möglich? Erstrebenswert? Und
was kostet sie?

Frei nach dem alemannischen Dichter Johann Peter Hebel kursiert die Geschichte jenes reisenden Handwerksburschen, der im pommerschen Anklam an einer Stubentür um einen Zehrpfennig bettelt. Er erblickt eine arme, kranke Frau, die ihm sagt, dass sie auch nichts habe. So geht der Bursche und kommt nach ein paar Stunden zurück. Als die Kranke beteuert, selbst auf die
Barmherzigkeit anderer Leute angewiesen zu sein, tritt der Jüngling an den Tisch, legt reichlich Brot und Geld darauf, das er unterdessen gesammelt hatte, sagt mit sanftem Lächeln "Das ist für euch, arme, kranke Frau", zieht die Stubentür zu und geht. Barmherzig ist jemand, der ein Herz für die Armen hat, für die Verwaisten und Unglücklichen, für die Einsamen und Bemitleidenswerten, wer ihnen gegenüber gütig ist. Aber es geht dabei nicht nur um die milde Gabe für einen Bettler, Barmherzigkeit macht Schluss mit dem berechnenden "Wie du mir, so ich dir", dem abweisenden "Was geht mich
das an?" oder dem vorwurfsvollen "Daran bist du selbst schuld". Vor ein paar Jahren hat der damals ranghöchste Protestant, der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Klaus Engelhardt, eine Kultur des Erbarmens eingefordert. Und damit auch daran erinnert, dass das Wort  Barmherzigkeit, das in unserer Alltagssprache wenig vorkommt und sperrig klingt, in der Bibel eine bedeutende Rolle spielt. Das Alte Testament nennt vor allem Gott selbst barmherzig, weil er seinem Volk hilft und vergibt, ohne daran Bedingungen zu knüpfen. In den Gleichnissen des Neuen Testamentes vom barmherzigen Samariter (Lukas 10, 29-37) und vom verlorenen Sohn oder dem gütigen Vater (Lukas 15, 11-32) gibt Jesus zwei überaus anschauliche Beispiele für die Güte des Menschen.  Sie kann sich auch in ganz  einfachen Dingen spiegeln: "Der rettende Engel der Barmherzigkeit", schreibt Ida Friederike Görres, "vielleicht versteckt er sich in einer Einladung ins Kino, in einem Brief oder einer simplen Tasse Tee." "Der barmherzige Samariter", sagte Kardinal Julius Döpfner einmal, "unterschreibt keine Resolution, die weitergeleitet werden muss, er packt selbst an."

Barmherzig zu denken und zu handeln vermag glaubwürdiger, wer auch zu sich selbst barmherzig ist.: wer gut mit sich umgeht, nicht gegen sich wütet und mich nicht mit Vorsätzen überfordert. Anselm Grün, Verwalter der Benediktinerabtei Münsterschwarzach, hält uns einen Spiegel vor, wie unbarmherzig wir oft mit uns selbst umgehen, indem wir uns verurteilen, wenn wir einen Fehler begehen, oder uns beschimpfen, wenn einmal etwas schief läuft, und durch solche Unbarmherzigkeit die Hilfe anderen gegenüber verfälschen. Der Prior der ökumenischen Buderschaft im französischen Taizé, Roger Schutz, meint, dass es am Abend unseres Lebens die Liebe sein wird, nach der wir beurteilt werden, die Liebe, die wir allmählich in uns  haben wachsen und sich entfalten lassen: in Barmherzigkeit für jeden Menschen. Sie verströmt Zärtlichkeit, Mitgefühl und Mitleid. Wir sollten das gut hören, damit wir der Sorge entgehen, die den Dichter Lothar Zenetti umtreibt: "Es ist sicher, dass wir schneller fahren, höher fliegen und weiter sehen können als Menschen früherer Zeiten. Es ist sicher, dass wir mehr abrufbares Wissen zur Verfügung haben als jemals Menschen vor uns. Es ist sicher, dass Gott sein Wort niemals zu einer besser genährten, gekleideten und bessergestellten Gemeinde sprach. Nicht sicher ist, wie wir bestehen werden vor seinem Blick. Vielleicht haben wir mehr Barmherzigkeit nötig als alle, die vor uns waren."


Hans-Albrecht Pflästerer