Beschlüsse

6. Tagung der 9. Synode der EKD (4. - 9. November 2001, Amberg)

Friedenspolitik in der gegenwärtigen Situation

Kundgebung der Synode

1. "Frieden zu wahren, zu fördern und zu erneuern ist das Gebot, dem jede politische Verantwortung zu folgen hat. Diesem Friedensgebot sind alle politischen Aufgaben zugeordnet. In der Zielrichtung christlicher Ethik liegt nur der Frieden, nicht der Krieg."
Und:
"Der Leitbegriff des gerechten Friedens dient ... als Wegweiser für alle künftigen Schritte auf dem Weg des Friedens."
Diese programmatischen Feststellungen aus der Denkschrift von 1981 "Frieden wahren, fördern und erneuern" und der Schrift "Friedensethik in der Bewährung" aus dem Jahre 2001 bleiben für die Evangelische Kirche in Deutschland gültig.

Um den Frieden zu erhalten und wieder herzustellen, müssen verschiedene Wege gegangen und unterschiedliche Mittel angewendet werden. Dabei darf nicht zuerst oder vorrangig an militärische Kampfeinsätze gedacht werden. Vorrangig sind vielmehr politische Bemühungen um ein friedliches Zusammenleben der Menschen und Völker, gerechte wirtschaftliche Verhältnisse, internationale Zusammenarbeit, zivile Konfliktregelungen - auch mit Hilfe von Friedensfachdiensten -, und um Begrenzung von Rüstung und Waffenhandel.

Wir wissen, dass solche Bemühungen nur auf lange Sicht erfolgreich sind und sich zuvor in Situationen konkreter Bedrohung durch Gewalt als unzureichend erweisen können. Deshalb ist es kein grundsätzlicher Widerspruch zu einer christlichen Friedensethik, vielmehr eine notwendige, wenn auch nicht vorrangige Konkretion, militärische Mittel zur Wahrung des Friedens und zur Durchsetzung des Rechts bereit zu halten und notfalls anzuwenden. Denn es bleibt dabei, wie es die Barmer Theologische Erklärung von 1934 sagt, dass "der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichem Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen."

Im Maße des Möglichen ist aber sicherzustellen, dass die Anwendung militärischer Gewalt nur als ultima ratio (äußerste Möglichkeit) und nur im unbedingt erforderlichen Umfang erfolgt. Dabei ist der Einsatz militärischer Mittel nur zulässig  zur Notwehr, zur Nothilfe und zum Schutz bedrohter Menschen, ihres Lebens, ihrer Freiheit und der Selbstbestimmung ihres Gemeinwesens. Bekämpft und zerstört werden darf allein das militärische Potential der Gegner.

Wird zu diesem Ziel militärische Gewalt angewendet, dann ist zu gewährleisten, dass

  • ein solches Eingreifen im Rahmen und nach den Regeln der Vereinten Nationen erfolgt
  • die Politik im Rahmen des Schutzes oder der Wiederherstellung einer rechtlich verfassten Friedensordnung über klar angebbare Ziele einer Intervention verfügt,
  • die an den Zielen gemessenen Erfolgsaussichten realistisch veranschlagt werden,
  • von Anfang an bedacht wird, wie eine solche Intervention beendet werden kann.

Zu berücksichtigen ist bei einem solchen Einsatz militärischer Mittel weiterhin, ob solche Maßnahmen letztendlich den Aufbau und die Weiterentwicklung einer internationalen Rechtsordnung eher stärken oder schwächen.
2. Auch gegen die neuen Formen des internationalen Terrorismus und gegen Staaten, die Terroristen begünstigen, ist der begrenzte Einsatz militärischer Mittel nur als ultima ratio zu rechtfertigen.

Die Suche nach geeigneten Mitteln zur Bekämpfung des Terrors führt vorrangig zu der Frage, ob das staatliche Gewaltmonopol bei Konflikten mit internationalen Dimensionen nicht noch deutlicher und klarer zugunsten einer internationalen Polizei-Streitkraft der Staatengemeinschaft entwickelt werden muss. Diese sollte - durchaus im Sinne kontrollierter Gewaltenteilung - über Instrumente verfügen können, die sie in die Lage versetzt, Verantwortung für die Durchsetzung von Recht und Frieden im zwischenstaatlichen Bereich und in jenen Regionen zu übernehmen, die durch den vollständigen Verfall staatlicher Strukturen im Chaos zu versinken drohen. Zu diesen Instrumenten muss auch der internationale Strafgerichtshof gehören sowie die Austrocknung der Finanzquellen des internationalen Terrorismus.
Das Risiko einer Eskalation der Gewalt kann verringert werden, wenn militärische Aktionen kein "Angriff", "Gegenschlag" oder "Vergeltungsschlag" einer einzelnen Nation sind, sondern eine Maßnahme der Strafverfolgung und der Gefahrenabwehr durch die Völkergemeinschaft.

Auch bei militärischen Aktionen zur Terrorismusbekämpfung sind die Gefährdung und Schädigung unbeteiligter und unschuldiger Menschen zu bedenken und diese weitest möglich zu schonen.


3. Die vorstehenden Kriterien sind für unsere Haltung zu den militärischen Aktionen gegen Terroristen und ihre Helfer in Afghanistan maßgeblich, unabhängig davon, ob deutsche Soldaten daran teilnehmen.

Die Bewertung wird uns - wie vielen anderen auch -, dadurch erschwert, dass zuverlässige und genaue Informationen über die tatsächlichen Gegebenheiten und die Wirkung der militärischen Angriffe nur unzulänglich verfügbar sind. Wir erkennen klare Indizien für Schuld und Mitverantwortung an den Verbrechen des 11. September 2001 bei der Organisation Al Qaida und den Taliban in Afghanistan. Wir sehen Widersprüche und Unklarheiten in dem, was wir über das Vorgehen der USA und der sie unterstützenden Staaten erfahren. Uns bleiben Zweifel, ob die Voraussetzungen für Anwendung militärischer Gewalt nach dem Prinzip der ultima ratio gegeben sind. Insbesondere fragen wir,
- ob alle anderen, vorrangigen Mittel hinreichend ausgeschöpft sind,
- ob der Waffeneinsatz vertretbar und verhältnismäßig ist angesichts der entstehenden Verluste an Menschenleben und der nachhaltigen Zerstörung der Lebensgrundlagen,
- ob dieses Vorgehen zum Erreichen eines Friedens ohne neue und weitere Konflikte und Opfer geeignet ist oder ob es vielmehr die Stabilität der Region gefährdet und Gegensätze zwischen der westlichen Welt und dem Islam verschärft.

Aus diesen Grundsätzen, Wahrnehmungen und Zweifeln ziehen wir unterschiedliche Konsequenzen:
Die einen halten die erkennbaren Schadensfolgen des militärischen Vorgehens und die darüber hinaus verbleibenden Zweifel für so gewichtig, dass sie den eingeschlagenen Weg und seine Fortsetzung entschieden ablehnen. Sie verweisen dabei darauf, dass die in unseren friedensethischen Grundsätzen genannten Bedingungen, unter denen eine Kriegsführung überhaupt nur gerechtfertigt werden kann, im Falle Afghanistans nicht oder nicht ausreichend gegeben sind. Das gilt besonders von der Frage nach der Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Mittel. Auch wenn einzuräumen ist, dass unter Umständen ein massiver militärischer Einsatz zunächst nötig ist, um langfristig den Terror zurückzudrängen, widerspricht dem der bisherige Kriegsverlauf  angesichts der wachsenden Verluste an Menschenleben und Lebensgrundlagen der Bevölkerung. Das gilt auch von der Frage, ob ein realistisches Kriegsziel benannt werden kann. Neben der Ergreifung der mutmaßlichen Täter, um sie zu bestrafen und an der Fortsetzung ihres Tuns zu hindern, wird die weitergehende Zielstellung  genannt, die Talibanherrschaft in Afghanistan zu beenden. So wünschenswert die Beseitigung dieses Unrechtsregimes auch ist, so ist in keiner Weise erkennbar, wie in Afghanistan eine dauerhafte Rechtsordnung errichtet werden kann.

Andere wiederum halten dieses militärische Vorgehen trotz aller Bedenken für vertretbar. Sie lassen sich dabei von folgenden Erwägungen leiten: Ein kategorischer Verzicht auf militärisches Vorgehen gegen das Talibanregime gewährt  der Terrororganisation Al Qaida einen sicheren Ort. Der UN-Sicherheitsrat hat seit zwei Jahren einstimmig das Talibanregime aufgefordert, zum Völkerrecht zurück zu kehren, die Menschenrechte zu respektieren sowie Bin Laden auszuliefern und seiner Organisation die Unterstützung zu entziehen – ohne Erfolg, trotz verhängter Sanktionen. Im Interesse des Völkerrechts und der internationalen Stabilität müssen auch solche Regierungen und Machthaber, die bisher auf entsprechenden politischen Druck nicht reagiert haben, davon abgehalten werden, den internationalen Terrorismus zu unterstützen. Militärische Mittel allein reichen zur Bekämpfung des Terrorismus nicht aus, nicht-militärische aber auch nicht: Gewaltverzicht verhindert Terrorismus nicht.

Über politische und militärische Einschätzungen mögen wir auch in der Kirche unterschiedlicher Ansicht sein. Bei aller Differenz in unserer Sichtweise und bei allem Zwiespalt, der auch unserer Einschätzung anhaftet, bleibt es doch unstrittig: Auch die EKD hat unter Berufung auf das Bekenntnis zu Jesus Christus jeden Einsatz militärischer Gewalt dem Friedens- und Mäßigungsgebot unterstellt und - wo immer möglich - die Gewaltlosigkeit als die dem Christen allemal vorrangig zur Verfügung und zu Gebote stehende Handlungsmaxime bestimmt. Schon deswegen gilt: Die ultima ratio militärischen Handelns muss ultima ratio bleiben.

Angesichts unserer eigenen und der allgemeinen öffentlichen Ungewissheit, ob die Voraussetzungen für einen militärischen Einsatz - auch wenn er in einer internationalen Straf- und Erzwingungsaktion erfolgen sollte - wirklich gegeben sind und ob die friedensethischen Bedingungen beachtet sind, bitten wir die Abgeordneten des Deutschen Bundestages und die Mitglieder der Bundesregierung, bei ihrer Entscheidung die vorgetragenen Kriterien zu Grunde legen, die Gewissensfreiheit jedes Einzelnen zu achten und der Öffentlichkeit - soweit das irgend möglich vertretbar ist - Auskunft über Voraussetzungen, Art, Umfang und Zielsetzung der angekündigten Maßnahmen zu geben.

Die in dieser Sache notwendige Gewissensentscheidung kann niemandem abgenommen werden. Die Freiheit, sie zu treffen, muss für den Einzelnen gewahrt sein. Wie auch immer der Einzelne sich entscheidet, es werden schwer belastende Fragen offen bleiben. Im Gebet für einen gerechten Frieden bringen wir sie vor Gott. In der Fürbitte gedenken wir der Opfer des Terrorismus und des Krieges, der Soldaten und ihrer Familien sowie der mit Entscheidungsaufgaben belasteten Politiker und Politikerinnen.

Amberg, den 8. November 2001

Der Präses der Synode
der Evangelischen Kirche in Deutschland


Die Veröffentlichung der Beschlüsse erfolgt unter dem Vorbehalt der endgültigen Ausfertigung durch den Präses der Synode!