Die Muschel

Weiße Muschel

Manches kehrt plötzlich und unerwartet wieder. So gewinnt in jüngster Zeit im Hinblick auf die Jahrtausendwende und der Nachfrage nach religiöser Lebensbedeutung und Lebensbewältigung eine uralte christliche Tradition wieder Bedeutung: Überall in Europa lebt das Pilgern auf. Auch evangelische Christen, von der Tradition der Wallfahrten nur mäßig geprägt, erfahren auf dieser mystischen Reise Schöpfung körperlich. In eine Welt ständiger Beschleunigung kehrt eine Kultur besinnlicher Langsamkeit zurück.

Seit Jahren schon, zwischen Weihnachten und Neujahr, lädt die ökumenische Bruderschaft von Taizé im französischen Burgund die Jugend Europas in eine der Hauptstädte zu einer neuen Station auf dem "Pilgerweg des Vertrauens". Da kommen aus ganz Europa, über Grenzen und Sprachen hinweg, schon mal hunderttausend junge Leute zusammen. Auch der Kirchentag in Stuttgart in diesem Sommer nahm mit seinem "Weg zu einer gerechteren Welt" das Ansinnen der Friedensmärsche nachdenklich wieder auf.

Die Schrittmacher der Pilgerbewegung sind auf Klage-, Befreiungs- und Friedenswegen auf den Beinen. Man könnte sagen, sie beten mit den Füßen. Sie brechen den Lebensströmen der Hoffnung Bahn. Sie haben die Vision, daß das neue Jahrtausend in ganz Europa mit einer zweiminütigen Schweigezeit, dem Anzünden einer Kerze der Zuversicht und einem Friedensgebet beginnen wird. Und sie wollen es mit sichtbaren Zeichen der Versöhnung und einer Chance für die Zukunft feiern. Pilgerwege verbinden Ortsgemeinden, Kirchen, Kommunitäten, Klöster. Und die Pilger bauen Brücken zwischen Ost und West, zwischen den Generationen und Konfessionen. Sie sind auf den Beinen hin zu einem besonderen Ort, einer Kirche vielleicht, einem geschichtsträchtigen Platz, zu einer Lebensgemeinschaft von Menschen. Von diesem Ziel her gewinnt ihr Weg seine Spannung und seine Bedeutung.

Sie sind kreuz und quer durch Europa in der Tradition der Wallfahrt nach Santiago de Compostela in Galizien unterwegs. Die zogen einst nach Westen, dorthin, wo man damals das Ende der Welt vermutete, zum Grab des Jakobus, des ersten Märtyrers unter den Jüngern Jesu. Ihr Zeichen war eine Muschel, die Jakobsmuschel, dick und bauchig die Unterseite, flach und elegant der Deckel.

Die diente nicht nur als Trinkgefäß, sondern sie nahm die Wallfahrer, die sie gut sichtbar an der Kleidung befestigten, gegen Wegelagerer und Räuber in den besonderen Schutz der Kirche. Und die Huren wie die durchtriebenen Wirtsleute ermahnte sie, die frommen Wanderer in Ruhe zu lassen. Wer ihnen etwas antat, wurde hart bestraft. So wurde die Muschel zum Segenszeichen.

Pilgern heißt: auf Zeit loslassen, was umtreibt und hetzt; verzichten auf den gewohnten Luxus; üben, von falschen Wünschen und Bedürfnissen Abschied zu nehmen; erfahren, was der Mensch wirklich braucht und was überflüssig ist; durchhalten lernen, auch wenn der Weg mühsam ist. Wer durch Wald und Flur, über Berg und Tal hautnah mit Erde und Wind, Sonne und Regen in Kontakt ist, erlebt die Schönheit der Schöpfung ganz neu. Pilger lernen das Fasten und das Schweigen und kehren aus dem Schweigen verändert zurück. Und sie erfahren vielleicht, daß der Himmel an bestimmten Orten offener und daß Gott so zugänglicher ist.

Hans-Albrecht Pflästerer