Das Licht

Orangefarbene Kerze

Menschen, die Ängste schüren, gibt es genug. An der Schwelle zum neuen Jahrtausend zumal. Andere setzen Hoffnungszeichen gegen diese Weltuntergangsvisionen. Mit Symbolen der Zuversicht. Und der Gewißheit, daß uns auf der Reise ins neue Jahrtausend der Segen Gottes begleitet. Einer Kerze etwa, einem Licht, das Helligkeit und Wärme spendet. Leben braucht Licht.

Licht. Das sind Mond und Sterne. Blitz und Morgendämmerung. Das ist der Regenbogen, der sich über dem Meer spannt. Das ist die Sonne, die durch Wolken bricht. Das sind Mittsommernächte, die nie dunkel werden. Das ist das Ende des Tunnels und der Ausgang aus der Höhle. Das ist der Beginn der geordneten und lebendigen Welt.
Licht. Das sind Zeiten, Zeichen. Tage. Das ist Wohlergehen, Heil, Glück, Heiterkeit. Licht ist der Augenblick und das Grün der Birke.

Das alles kann ein Lichtblick sein: Eine Grießsuppe. Ein Bett. Ein Sieg nach einer Serie von Niederlagen. Das Ende der Schmerzen nach großer Qual. Die Erfüllung eines lange gehegten Wunsches. Eine Wohnung finden. Eine seltene Briefmarke entdecken. Eine gute Zensur erhalten. Eine Chance bekommen. Einen Ausweg sehen. Einen Konflikt bewältigen. Einen Fortschritt erkennen. Einen Brief erhalten. Der Lichtblick ist der Vorbote der Hoffnung.

Ich kann etwas ans Licht bringen. Mir kann ein Licht aufgehen. Ich kann jemandem ein Licht aufstecken und muß mein Licht nicht unter den Scheffel stellen. Ich kann eine Sache bei Lichte besehen und grünes Licht geben. Doch sollte ich niemanden hinters Licht führen. Licht kann kalt sein. Übermüdete Gesichter unter den Lampen einer Wartehalle. Weiße Kittel, die bläulich wirken im Schein greller Röhren des Supermarktes. Konzentrierte Augen über dem Mundschutz der Ärzte im Operationssaal unter den großen Lampen.

Licht kann warm sein. Feuerschein, der aus der offenen Herdklappe fällt. Petroleumlampe auf dem groben Tisch. Schein der kleinen Kerze im Stövchen unter der bauchigen Teekanne. Sanfte Helle der Nachttischlampe neben dem Kinderbett.

Licht kann Stimmung sein. Schmerzhaft gleißende Reflexe von Sonnenstrahlen auf Schneefeldern, Flimmern der Hochsommerhitze über einer geraden Straße, brechende Farben in beschienenen Tautropfen, tastende Sonnenfinger auf Eisblumen am Fenster.   

"Du bist mein Licht³, sage ich zu einem geliebten Menschen. "Du machst mein Leben hell, leicht, fröhlich. Du gibst mir andere Augen, läßt mich schöne Dinge sehen, an denen ich vorbeigegangen wäre. Du läßt mich Böses nachsichtig anschauen. Du läßt mich strahlen, und ich gebe davon ab. Weil ich froh bin, bekomme ich ein Lächeln zurück."

Licht sein. Das heißt, anderen zu einem Lichtblick zu verhelfen. Jemandem etwas zu essen geben. Oder ein Bett bereiten. Schmerzen lindern. Einen Wunsch erfüllen. Eine Wohnung besorgen. Eine Chance geben. Eine Arbeit. Einen Brief schreiben. Zeit haben. Jemanden anhören. Für jemandes Recht eintreten. Einen Ängstlichen ermutigen. Einen Traurigen trösten. Für jemanden beten. Und niemanden aufgeben. Wo immer dies geschieht, wird Licht.

Hans-Albrecht Pflästerer