Gute Grundlage für Debatte über Handlungsschritte gegen Armut

Der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Präses Manfred Kock, zum 1. Nationalen Armuts- und Reichtumsbericht

25. April 2001

Der Armuts- und Reichtumsbericht, den die Bundesregierung heute vorlegt, ist von den Kirchen schon vor einiger Zeit gefordert worden. Er ist eine gute Grundlage für die weitere Debatte um notwendige Handlungsschritte. In den Darstellungen sehen wir uns in früheren Analysen und Einschätzungen bestätigt. Tiefe Verwerfungen gehen durch unser Land: vor allem der von der Massenarbeitslosigkeit hervorgerufene Riss, aber auch die wachsende Kluft zwischen Wohlstand und Armut oder die noch immer bestehende Asymmetrie zwischen Ost und West. Die Marktwirtschaft führt nicht von selbst zum Ausgleich der Interessen. Sie bedarf immer wieder der Korrektur, damit Solidarität und Gerechtigkeit erhalten bleiben.

Die Deutsche Bischofskonferenz und der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland haben 1997 in ihrem gemeinsamen Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit die regelmäßige Erstellung eines Armuts- und Reichtumsberichts gefordert. Wir haben dies getan, weil verlässliche Daten über die Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland unverzichtbare Grundlagen für wirtschafts- und sozialpolitische Reformen sind, deren Dringlichkeit wir in diesem Wort angemahnt haben. Dass dieser Bericht nun durch die Bundesregierung erstellt wurde, ist damit auch als ein Erfolg des Konsultations- und Diskussionsprozesses um das gemeinsame Wort zu betrachten. Aus diesen Gründen danken wir der Bundesregierung für die Vorlage dieses Berichtes.

Der Bericht ist alarmierend in der Darstellung der wirtschaftlichen Situation der Familien. Wir können dankbar dafür sein, dass die Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in den letzten Jahren auch einem Großteil der Familien zugute gekommen ist und dass die meisten Kinder in ihren Familien behütet aufwachsen können. Dennoch führt die Geburt eines Kindes für Eltern nicht selten zu ökonomischen Nachteilen, die von Kindergeldzahlungen oder steuerlichen Erleichterungen bei weitem nicht aufgefangen werden. Das Wohlstandsniveau gegenüber Kinderlosen sinkt deutlich ab. Dies ist sicher nicht die einzige, so aber doch eine nicht ungewichtige Ursache für den anhaltenden Geburtenrückgang. Zum Armutsrisiko wird die Geburt eines Kindes, wie die Bundesregierung richtig feststellt, in aller Regel bei größeren Familien und bei allein Erziehenden. Die Feststellung, dass über eine Million Kinder von Leistungen der Sozialhilfe abhängig sind und somit mit ihren Eltern unter Ausgrenzungen und Stigmatisierung zu leiden haben, kann nur erneut hervorgehoben und muss endlich zum Ausgangspunkt für politisches Handeln gemacht werden.

Die Beschreibung der Situation von arbeitslosen Menschen droht in der Fülle der dargestellten Arbeitsmarktdaten verlorenzugehen. Arbeitslosigkeit ist ein schweres Übel für jeden einzelnen betroffenen Menschen. Obwohl sie ein gesamtwirtschaftliches Problem darstellt, ist das Vorurteil weit verbreitet, sie beruhe auf individuellem Versagen. Viele Arbeitslose beziehen solche Schuldzuweisungen auf sich, ziehen sich aus Scham zurück und fühlen sich vielfach ausgegrenzt. Sie vermissen die Chance, ihren Lebensunterhalt eigenständig zu sichern, Kontakte zu pflegen, sich weiter zu qualifizieren und sich am gesellschaftlichen Leben verantwortlich zu beteiligen. Diese Aussagen aus unserem gemeinsamen Wort sollten vor einer öffentlichen Äußerung im Blick auf Arbeitslose bedacht werden. Ob die beschriebenen Verbesserungen auf dem Arbeitsmarkt zum größten Teil auf den anzuerkennenden Bemühungen der Bundesregierung oder auf den gesamtwirtschaftlichen und demografischen Entwicklungen beruhen, darf dahingestellt bleiben. Klar ist, dass die Bundesregierung, die Arbeitgeber und die Gewerkschaften gemeinsam noch erhebliche Aufgaben zu bewältigen haben, um die Arbeitslosigkeit auf ein erträgliches Niveau zu begrenzen.

Mit Sorge betrachten wir weiterhin die Situation der Migranten, darunter insbesondere die der Flüchtlinge. Personen, die aus dem Ausland zu uns kamen, sind - unabhängig davon, ob sie gegenwärtig die deutsche oder eine andere Staatsbürgerschaft besitzen - überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit und Armut betroffen. Der Stand ihrer sozialen Integration und die Bildungschancen ihrer Kinder sind als vergleichsweise schlecht zu werten. Nur wenige Aussagen des Berichtes beziehen sich auf die Situation von Flüchtlingen, obwohl dafür Datenmaterial vorhanden ist. Gerade Flüchtlinge und Asylbewerber befinden sich aber in ihren Unterkünften oder auch in der Abschiebehaft in prekären Lebenslagen.

Der Bericht ist bei der Darstellung der Reichtumssituation weniger differenziert. Es kann aber doch festgestellt werden, dass der Armut in Deutschland ein großes Gegengewicht privater Vermögen gegenübersteht. Wir sind ein reiches Land. Dies ist zunächst positiv zu werten. Unklar bleibt jedoch, inwieweit die im Grundgesetz postulierte Sozialbindung des Eigentums eingehalten wird und ob beim Umgang mit Billionen an Vermögenswerten dem Gemeinwohl hinreichend Rechnung getragen wird. Hier sind weitere ethische, wirtschafts- und sozialwissenschaftliche und politische Diskussionen nötig.

Viele Herausforderungen hat die Bundesregierung in ihrem Bericht selbst beschrieben und zum Teil auch Lösungsvorschläge genannt und mit deren Umsetzung begonnen. Manches bedarf der weiteren Diskussion. Hierbei wird die EKD nach Kräften mitwirken. Wie dies aussehen wird, zeigen zwei beispielhafte Voten der EKD-Synode im November 2000 in Braunschweig:

  • Zur Umsetzung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu den familienbezogenen Leistungen von November 1998 hat die Synode gefordert, das Kindergeld so auszugestalten bzw. zu erhöhen, dass Familien nicht von Sozialhilfe abhängig werden; dass Kinder nicht zum Armutsrisiko werden dürfen und dass die Benachteiligungen von Alleinerziehenden aufgehoben werden muss.

  • Beratungsstellen für die Probleme der Vernachlässigung, Misshandlung, sexuellen Ausbeutung und des Missbrauchs von Kindern sind zu unterstützen, auszubauen und präventive Maßnahmen zu verstärken. Dazu gehört auch die Bekämpfung von Kinderarmut.

Hannover, 25. April 2001
Pressestelle der EKD