"... und der Fremdling, der in deinen Toren ist"

Vorstellung des Gemeinsamen Wortes der Kirchen zu Migration und Flucht

Statement Bischof Dr. Karl Lehmann, Vorsitzender der DBK, 4. Juli 1997

Der Auftrag für das Gemeinsame Wort zu den Herausforderungen durch Migration und Flucht und die Arbeiten daran reichen in das Jahr 1992 zurück, als es vor dem Hintergrund dramatisch gestiegener Asylbewerberzahlen zu heftigen innenpolitischen Auseinandersetzungen kam. Die Deutsche Bischofskonferenz und der Rat der EKD hatten am 26. November 1992 mit einer gemeinsamen Erklärung zur Aufnahme von Flüchtlingen und zum Asylrecht eine Asyl- und Flüchtlingspolitik gefordert, die das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte schützt und im erforderlichen Umfang die Zuwanderung steuert und begrenzt.

Die Kirchen nehmen für sich das Recht in Anspruch, sich zu Fragen der Migration, Vertreibung und Flucht zu äußern, weil es hier fast immer um die Achtung und Wahrung der Würde des Menschen geht. Diese ist für alle Angehörigen des biblischen Glaubens, also Juden und Christen, wurzelhaft in der Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen begründet. Migration, Vertreibung und Flucht berühren in ganz besonderem Maße die Existenz des Menschen und damit seine Würde und seine Unantastbarkeit. In ihrer weltweiten Tragik, Dramatik, und Dimension sprengen sie inzwischen jedes Maß und jede menschliche Vorstellungskraft. Sie sind eine Herausforderung an die Völkergemeinschaft und eine Anfrage an die Solidarität der einzelnen Staaten. Migration, Vertreibung und Flucht nehmen nicht ab, sondern zu. Entsprechend verstärkt sich der Zuwanderungsdruck auf Deutschland und Europa.

Deutschland ist ein offenes und freies Land. Seine Offenheit und Freiheit muß sich auch und vor allem daran erweisen, wie es mit Fremden, Ausländern, Flüchtlingen und Asylbewerbern umgeht. Die bisherigen Erfahrungen im Umgang und mit der Aufnahme von Migranten lehren, daß einzelne, nicht aufeinander abgestimmte und nur auf Abwehr gerichtete Maßnahmen nicht weiterführen, nicht weiterhelfen, es vielmehr eines umfassenden politischen Gestaltungskonzepts ineinander verschränkter Handlungsfelder bedarf, um diesen Herausforderungen, gemessen an den ethischen und menschenrechtlichen Maßstäben, wie sie nicht zuletzt auch ihren Niederschlag im Grundgesetz gefunden haben, gerecht zu werden.

Für ein solches umfassendes politisches Gestaltungskonzept treten die Kirchen mit dem vorliegenden Gemeinsamen Wort ein, das weder revolutionäre Neuerungen noch welt- oder sachfremde Förderungen erhebt. Diese umfassen im wesentlichen die folgenden Elemente und Ansätze:

- Die Kirchen sehen einen zentralen Ansatz in der Bekämpfung der Fluchtursachen durch eine kohärente internationale Entwicklungszusammenarbeit, die Maßnahmen zur Verbesserung der politischen Rahmenbedingungen ebenso einschließt wie die Verbesserung der Menschenrechtslage in den Herkunftsländern, die Beteiligung der Bevölkerung an politischen Entscheidungsprozessen oder die Schaffung von demokratischen, rechtsstaatlichen und sozial ausgerichteten marktwirtschaftlichen Strukturen und Hilfe zur Selbsthilfe. Mit ihren kirchlichen Hilfswerken leisten die Kirchen selbst einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in den Herkunftsländern.

- Auf der Ebene der Europäischen Union gilt es, eine insgesamt abgestimmte Ausländer- und Flüchtlingspolitik mit einer gerechten Lastenverteilung insbesondere im Blick auf den Schutz von Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen zu erreichen. Hinsichtlich des Asylrechts wird für ganz Europa ein Rechtsanspruch nach einheitlichen Maßstäben mit Mindeststandards für die nationalen Anerkennungsverfahren gefordert.

- Innerhalb von Deutschland setzen sich die Kirchen für einheitliche, auf eindeutigen politischen Vorgaben eingebaute gesetzliche Zuwanderungsregelungen ein, die für Ausländer wie für Deutsche die rechtlichen Zuwanderungsbestimmungen übersichtlich zusammenfassen und vereinheitlichen. Die Kirchen geben in diesem Zusammenhang außerdem zu bedenken, ob nicht die Vorgabe bestimmter Quoten für die Zuwanderung hilfreich sein kann, wohl wissend, daß auch eine solche Lösung nicht alle aufgeworfenen Probleme zu beseitigen vermag.

- Hinsichtlich des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes empfehlen die Kirchen eine Überprüfung und Abstimmung mit den im neuen Ausländergesetz gewährten Ansprüchen auf Einbürgerung. Sie setzen sich gleichzeitig insbesondere bei in Deutschland geborenen Kindern für die Erleichterung der Einbürgerung unter Hinnahme auch von Mehrstaatlichkeit ein, wenn die Entlassung aus der bisherigen Staatsangehörigkeit unzumutbar ist. Die Hinnahme von Mehrstaatlichkeit stellt in der heutigen Einbürgerungspraxis schon längst keine Ausnahme mehr dar.

Über diese rechtlichen Aspekte hinaus geht es vor allem auch darum, für die in Deutschland lebenden und bei uns bleibenden Ausländer die sozialen und kulturellen Bedingungen ihrer Integration zu verbessern und allen Vorbehalten diffuser Fremdenangst und Fremdenfeindlichkeit entgegenzuwirken. Die Kirchen sehen sich insoweit auch selbst in die Verantwortung und Pflicht genommen. Diesen Auftrag haben wir immer schon wahrgenommen.

Das Gemeinsame Wort zu den Herausforderungen durch Migration und Flucht hat gerade auch in diesen weit über die Frage der rechtlichen Gestaltung der Zuwanderung hinausgehenden Aussagen sein eigenes Gewicht. An besonderen Anliegen seien beispielhaft hervorgehoben:

- An den Zustandekommen dieses Wortes waren auch ausländische Christen und ausländische christliche Kirchen beteiligt. Die Christen und die christlichen Kirchen sind über alle Sprach- und Staatsgrenzen hinweg in der Abwehr von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Gewalt verbunden. Die Frage Gottes an Kain: "Wo ist dein Bruder Abel?" ist nach wir vor aktuell.

- Das Wort enthält zu dem Verhältnis von Christen und Muslimen im allgemeinen sowie zu der Frage der Erteilung von Religionsunterricht für muslimische Schüler grundsätzliche Orientierungen. Eine religiöse Unterweisung muslimischer Schülerinnen und Schüler an deutschen Schulen ist dringen erwünscht, auch wenn die Bedingungen für die Erteilung eines bekenntnisorientierten Religionsunterrichts nicht vorliegen.

- Das Wort äußert sich zu der umstrittenen Frage der Gewährung von Kirchenasyl und stellt fest, daß die Kirchen weder für sich einen rechtsfreien Raum in Anspruch nehmen noch dem Staat das Recht bestreiten, seine Entscheidungen gegebenenfalls auch im Bereich kirchlicher Räume durchzusetzen.

Die Aussiedler werden ausdrücklich in die Gesamtbetrachtung einbezogen. Im Hinblick auf ihren Staat als deutsche Volkszugehörige und ihren Anspruch auf Aufnahme in die Bundesrepublik Deutschland kam es im Vorfeld der Veröffentlichung des Wortes zu Diskussionen. Da es sich aber auch bei ihnen um eine Gruppe von Migranten handelt, deren Aufnahme und Eingliederung in das wirtschaftliche und soziale Leben in ihrer deutschen Heimat der sozialverträglichen Gestaltung bedarf, waren sich die verantwortlichen kirchlichen Gremien einig, daß sie bei dem vorliegenden Wort nicht außer Betracht bleiben konnten. Das Gesamtbild wäre sonst unvollständig.

Das Wort wurde von einer Ökumenischen Arbeitsgruppe vorbereitet, in der Theologen, Wissenschaftler, Juristen und Aussiedlerbeauftragte, darunter auch Ausländer, zusammenarbeiteten und ihre Erfahrungen, ihren Sachverstand, aber auch ihre engagierten Vorstellungen und Erwartungen einbrachten. Mit dieser Arbeitsweise haben wir schon früher gute Erfahrungen gemacht (vgl. Grundwerte und Gottes Gebot, Verantwortung für die Schöpfung, Gott ist ein Freund des Lebens).

Wir danken allen, die an dem Zustandekommen des Wortes mitgewirkt haben. Wir bitten alle in Kirche, Politik und Gesellschaft, die für ein gedeihliches und friedliches Miteinander von Einheimischen und Zuwanderern Verantwortung tragen und sich in diesem Sinne engagieren, die Anliegen des Wortes wohlwollend anzunehmen und in den weiteren politischen und gesellschaftlichen Meinungsbildungsprozeß einzubringen.

Bonn, 4. Juli 1997