Kirchen fordern tiefgreifende Erneuerung der Gesellschaft und ein solidarisches und gerechtes Gemeinwesen

Gemeinsames "Sozialwort" der Kirchen wird in Bonn vorgestellt

28. Februar 1997

Solidarität und Gerechtigkeit sind nach Ansicht der Kirchen die Maßstäbe für eine zukunftsfähige und nachhaltige Wirtschafts- und Sozialpolitik. Ein erneuerter Grundkonsens, der in der Rückbesinnung auf die Grundintentionen der Sozialen Marktwirtschaft und des sie tragenden Wertgefüges bestehe, sei Voraussetzung für die Bewältigung der derzeitigen schwierigen Lage. Dieser Grundkonsens müsse eine Verständigung umfassen über Menschenrechte, freiheitlich soziale Demokratie, ökologisch-soziale Marktwirtschaft, Chancen und Formen der Solidarität und über die internationale Verantwortung.

Die Kirchen gehen aus vom christlichen Bild vom Menschen, das die Freiheit und die persönliche Verantwortung zusammen sieht. Zur sozialen Gerechtigkeit gehöre deshalb unabdingbar die Teilhabe aller und zugleich die Verpflichtung aller zur Teilhabe. Dies verlange den Abbau der Arbeitslosigkeit, die vorrangige Berücksichtigung der Armen, Schwachen, Notleidenden und der Problemgruppen, die Förderung der Familien und die Stärkung der gegenseitigen Hilfe der einzelnen Gruppen mit dem Ziel einer erneuerten Sozialkultur.

Die Kirchen wenden sich gegen eine "Marktwirtschaft pur" und betonen: "Mit einer Herauslösung der Marktwirtschaft aus ihrer gesellschaftlichen Einbettung würden die demokratische Entwicklung, die soziale Stabilität, der innere Friede und das im Grundgesetz verankerte Ziel der sozialen Gerechtigkeit gefährdet werden." Hingewiesen wird auf die Gefahr, daß die Wettbewerbsfähigkeit auf Kosten der sozialen Sicherung gestärkt werden solle.

In dem Gemeinsamen Wort, das am 28. Februar 1997 in Bonn von dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Dr. Karl Lehmann, und dem Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Landesbischof Dr. Klaus Engelhardt, in einer Pressekonferenz vorgestellt wird, setzen sich die Kirchen dafür ein, den Wettbewerb und den sozialen Ausgleich zusammenzubringen. Aus diesem Grunde müsse die Freiheit des wirtschaftlichen Wettbewerbs und die Verwirklichung des sozialen Ausgleichs in ökologischer Verantwortung gleichwertig und gleichgewichtig von allen akzeptiert und getragen werden. Es gehe um eine Wirtschaftsordnung, die auf den Prinzipien eines in seinem Gebrauch dem Wohle der Allgemeinheit verpflichteten Privateigentums (Art. 14 Abs. 2 GG), eines funktionierenden Wettbewerbs und der sozialstaatlichen Absicherung der Einkommen der Nicht-Erwerbstätigen beruhe.

Die Kirchen beklagen "tiefe Risse", die durch unser Land gehen: Vor allem den von der Massenarbeitslosigkeit hervorgerufenen Riß, aber auch den wachsenden Riß zwischen Wohlstand und Armut oder den noch längst nicht geschlossenen Riß zwischen Ost und West. Das Wort der Kirchen, das unter dem Titel "Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit" steht, tritt ein für eine "Kultur des Erbarmens", denn "den Blick für das fremde Leid zu bewahren ist Bedingung aller Kultur ... Die Armen sollen mit Verläßlichkeit Erbarmen erfahren. Dieses Erbarmen drängt auf Gerechtigkeit."

Deutliche Kritik üben die Kirchen an der gegenwärtigen sozialen Lage in Deutschland. "Die katastrophale Lage auf dem Arbeitsmarkt ist weder für die betroffenen Menschen noch für den sozialen Rechtsstaat hinnehmbar", heißt es in dem Papier. Die Armut in der Wohlstandsgesellschaft sei ein Stachel: "Armut wird heute immer noch stark tabuisiert ... Es gilt jedoch, die tatsächlich bestehende Armut zur Kenntnis zu nehmen." Die Sorge der Kirchen gilt ebenso den Familien. "Mehrere Kinder zu haben ist heute zu einem Armutsrisiko geworden" und "Mehrkinderfamilien sind hier sogar extrem benachteiligt."

Den Sozialstaat nehmen die Kirchen gegen seine Kritiker in Schutz, halten aber zugleich auch Reformen im Bereich Renten, Sozialhilfe, Vermögensbildung, Familienlastenausgleich für unerläßlich. Als wesentliche Ursache der Finanzierungsschwierigkeiten der Sozialhaushalte nennen sie die hohe Arbeitslosigkeit und betonen: Nicht der Sozialstaat sei zu teuer, sondern die hohe Arbeitslosigkeit. Es sei auf Dauer nicht möglich, "den Sozialstaat der anhaltenden Arbeitslosigkeit anzupassen" und "immer weniger Erwerbstätigen die Versorgung von immer mehr Nichterwerbstätigen zu übertragen."

Der Sozialstaat dürfe "nicht als ein nachgeordnetes und je nach Zweckmäßigkeit beliebig zu 'verschlankendes' Anhängsel der Marktwirtschaft betrachtet werden." Der Sozialstaat müsse aber auch durch Stärkung der Eigeninitiative, Eigenverantwortung und Stärkung der kleinen sozialen Einheiten weiterentwickelt werden. "Eine entwickelte Sozialkultur trägt auch dazu bei, Vereinsamung und soziale Kälte zu überwinden, und schafft so Voraussetzungen für eine menschenwürdige Gesellschaft."

Die Globalisierung der Wirtschaft sei keine Naturgewalt, heißt es weiter. Sie müsse im Rahmen der Wirtschafts- und Finanzpolitik gestaltet werden. Von den internationalen Finanz- und Kapitalmärkten gehe auch eine destabilisierende Wirkung auf die nationalen Volkswirtschaften aus. Wörtlich heißt es in dem Wort der Kirchen: "Die hohen und ständig steigenden Summen, die fortlaufend auf den internationalen Finanzmärkten umgesetzt werden, verweisen auf die Aufgabe, diese Prozesse zu gestalten und der Entwicklung weltweiter Wohlfahrt dienlich zu machen. Eigentum ist stets sozialpflichtig, auch das international mobile Kapital." In dieser Situation sprechen sich die Kirchen für eine weltweite Solidarität und Gerechtigkeit aus und für eine Stärkung der internationalen Verantwortung.

Die Probleme sind nach Ansicht der Kirchen nicht unlösbar. So dürfe es gegenüber der Massenarbeitslosigkeit keine Resignation geben. Es bestünden durchaus Voraussetzungen dafür, die Massenarbeitslosigkeit deutlich zu reduzieren: "Produktion und Volkseinkommen sind in Deutschland so hoch wie nie zuvor. Deutschland verfügt über eine moderne, gut ausgebaute Infrastruktur und eine ausgewogene Wirtschaftsstruktur". Obwohl es kein Patentrezept für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gebe, stünden doch zahlreiche erfolgversprechende Mittel zur Verfügung, zu denen u.a. das Teilen von Arbeit zusammen mit dem Teilen von Einkommen ebenso gehöre wie etwa eine öffentlich geförderte Arbeit.

In einem ausführlichen ethischen Teil des Papiers entfalten die Kirchen u.a. die "vorrangige Option für die Armen, Schwachen und Benachteiligten", sowie die Grundsätze Gerechtigkeit, Solidarität, Subsidiarität und Nachhaltigkeit. Sie gründen ihre Aussagen auf die Bibel, denn sie "übt prophetische Kritik an gesellschaftlichen Unrechtssituationen"; sie "setzt sich vor allem für die Benachteiligten und für die Fremden ein". Die christliche Nächstenliebe "wendet sich vorrangig den Armen, Schwachen und Benachteiligten zu. So wird die Option für die Armen zum verpflichtenden Kriterium des Handelns." Diese Option ziele darauf, "Ausgrenzungen zu überwinden und alle am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen ... Sie lenkt den Blick auf die Empfindungen der Menschen, auf Kränkungen und Demütigungen von Benachteiligten, auf das Unzumutbare, das Menschenunwürdige, auf strukturelle Ungerechtigkeit. Sie verpflichtet die Wohlhabenden zum Teilen und zu wirkungsvollen Allianzen der Solidarität."

Auch sich selbst sehen die Kirchen in der Pflicht. So betonen die Kirchen: In einer angespannten Situation, in der auch die Kirchen sparen müssen, gehe es darum, mit sozialem Verantwortungsbewußtsein, sozialer Phantasie und Flexibilität Härten abzuwenden. "Wo einschneidende Sparmaßnahmen unausweichlich sind, muß dem Teilen von Arbeit der Vorrang vor dem Abbau von Stellen und Entlassungen zukommen."

Das Gemeinsame Wort der Kirchen wurde nach einem öffentlichen Konsultationsprozeß vorbereitet und vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz angenommen. Hauptverantwortlich für die Vorbereitung des Textes waren auf evangelischer Seite der Vizepräsident des Kirchenamtes der EKD, Dr. Hermann Barth, auf katholischer Seite der Bischof von Hildesheim, Dr. Josef Homeyer.

Hannover und Bonn, den 28. Februar 1997

Pressestelle der EKD

Pressestelle der
Deutschen Bischofskonferenz