Vorstellung des gemeinsamen "Sozialwortes" der Kirchen

Statement Landesbischof Dr. Klaus Engelhardt, Vorsitzender des Rates der EKD

Bundespressekonferenz in Bonn, 28. Februar 1997

Die Arbeitslosigkeit in Deutschland hat in diesen Wochen einen neuen Höchststand erreicht. Die Finanzierung der Systeme der sozialen Sicherung ist außerordentlich schwierig geworden. Die Lage unserer Wirtschaft ist angespannt. Alle wissen das. Ist es in einer solchen Situation notwendig, zu den vielen Vorschlägen und Rezepten zur Bewältigung unserer Schwierigkeiten noch kirchliche Vorschläge hinzuzufügen?

Die Kirchen melden sich deshalb zu Wort, weil sie den Eindruck haben, daß ein breiter sozialer Konsens in Deutschland darüber fehlt, ein solcher Konsens aber mehr denn je nötig ist, die Dinge gemeinsam anzupacken, Kompromisse einzugehen und gemeinsame Lösungen zu finden und weil sie in dem zurückliegenden Konsultationsprozeß unerwartet viel Bereitschaft zu einer breiten Diskussion quer durch die Gesellschaft angetroffen haben. Sie melden sich zu Wort, weil die Armut in unserer Wohlstandsgesellschaft bagatellisiert wird, weil die Belange vor allem der Benachteiligten in der öffentlichen Diskussion über Konsolidierungsmaßnahmen nicht genügend im Blick sind. Programmatisch haben wir unserem gemeinsamen Wort deshalb den Titel gegeben: "Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit".

Wir widersprechen mit diesem Wort der Vorstellung, als könnte eine in stärkerem Maße von Gemeinwohlverpflichtungen "entlastete" Wirtschaft unsere Probleme lösen. Wir widersprechen zugleich der Vorstellung, als sei jetzt der Staat allein für alles verantwortlich, oder der Vorstellung, als müßte jetzt alles bewahrt und erhalten bleiben, was unseren bisherigen Wohlstand ausgemacht hat.

Wir widersprechen solchen Einseitigkeiten, weil sie uns nicht weiterführen, und weil sie Lösungen verhindern.

In einem humanen und gerechten Gemeinwesen muß beides zugleich (!) möglich sein: die Bewahrung und Erhaltung unseres Sozialstaates und seine Anpassung an eine veränderte Situation. Einsparungen und schmerzliche Einschnitte sind in einer Zeit leerer öffentlicher Kassen nötig, aber bei diesen Einsparungen müssen die Lasten gerecht verteilt werden. "Die Bevölkerung ist bereit," heißt es in dem Wort, "notwendige Einsparungen mitzutragen, wenn sie sieht und davon ausgehen kann, daß die Lasten und die Leistungen gerecht verteilt sind." Der Sozialstaat dient dem sozialen Ausgleich, "darum belastet er die Stärkeren zugunsten der Schwächeren."

In einem humanen und gerechten Gemeinwesen muß bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit beides zugleich (!) möglich sein: die Verbesserung der Rahmenbedingungen der Wirtschaft, damit rentable und wettbewerbsfähige Arbeitsplätze entstehen, und das integrierende, unterstützende, helfende Engagement von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat bis hin zur Teilung der vorhandenen Arbeit, bis hin zur Arbeitszeitverkürzung und zur öffentlich geförderten Arbeit. Gerade bei dieser öffentlich geförderten Arbeit ist uns sehr daran gelegen, daß sie von der privaten Wirtschaft nicht tabuisiert wird, sondern daß die Unternehmer sich hier kooperativ mit einklinken. Arbeiten zu können ist ein Menschenrecht. Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, daß dieses Recht mehr als einem Zehntel unserer Erwerbsbevölkerung verweigert wird. Auf die Dauer ist es nicht möglich, "den Sozialstaat der anhaltenden Arbeitslosigkeit anzupassen."

In dem Wort der Kirchen finden Sie dieses Plädoyer für ein solidarischeres und gerechteres Gemeinwesen als durchgängigen Gedanken, an vielen Beispielen deutlich gemacht. Ich nenne drei Beispiele:

  • Zunächst zur Armut: "Armut in der Wohlfahrtsgesellschaft ist ein Stachel," heißt es in dem Papier. Diese Armut ist in den letzten 20 Jahren gewachsen. In unserer Arbeit in Gemeinden und Diakonie haben wir immer mehr mit Menschen in Not zu tun. Wir müssen das Faktum Armut in Deutschland zur Kenntnis zu nehmen und die Notwendigkeit erkennen, uns für eine Verbesserung der Situation einzusetzen. Das ist Ausdruck der "vorrangigen Option für die Armen", von der in dem Wort die Rede ist. Einer unserer Vorschläge zur Verbesserung der Situation zielt darauf, unsere vorrangigen sozialen Sicherungssysteme "armutsfest" zu machen.
  • Notwendig ist auch eine Stärkung der inneren Einheit Deutschlands. Die vielen Eingaben aus den östlichen Gliedkirchen und Diözesen zum Konsultationsprozeß haben uns gezeigt, wie tief die Gräben noch sind, die ein wirkliches Zusammenwachsen schwer machen. Das Wort der Kirchen betont: "Die innere Einheit kann nur gelingen, wenn sich die Menschen in Ost und West als solidarische Gemeinschaft verstehen. Sie müssen im Interesse des Ganzen bereit sein, entsprechend ihren Möglichkeiten Einschränkungen in Kauf zu nehmen. Die unvermeidlichen Opfer und Belastungen müssen gerecht verteilt werden ..."
  • Wenn wir das gerechte und solidarische Gemeinwesen in Deutschland stärken wollen und auf eine "Kultur des Erbarmens" setzen, dann darf nicht nur vom Sozialstaat die Rede sein, dann muß es auch zu einer Verbesserung unserer Sozialkultur kommen. Sozialkultur, das ist die praktizierte Solidarität in den Familien, in der Nachbarschaft und im Stadtteil, das ist das Engagement und die Eigenverantwortung der einzelnen Bürgerinnen und Bürger. Eine entwickelte Sozialkultur ist dazu da, den Sozialstaat zu ergänzen. Damit soll nicht die Fürsorge der Gesellschaft überflüssig gemacht und die einzelnen mit ihrer sozialen Sicherung allein gelassen werden. Es muß aber die Bereitschaft wachsen, auch selbst für Lebensrisiken einzustehen.

Vieles von dem, was die Kirchen an Problemen in dem gemeinsamen Wort ansprechen, muß für sie selber gelten. Unter den knappen Mitteln leiden nicht nur die öffentlichen Haushalte, sondern auch die Kirchen. Uns ist klar, daß wir in den kommenden Jahren mit schweren Belastungen zurecht kommen müssen und mit unserer Forderung nach praktizierter Solidarität bei uns selbst anfangen müssen.

Bonn/Hannover, 28. Februar 1997
Pressestelle der EKD