Vorstellung des gemeinsamen "Sozialwortes" der Kirchen

Statement Bischof Dr. Karl Lehmann, Vorsitzender der DBK

Bundespressekonferenz in Bonn, 28. Februar 1997

Unsere Gesellschaft befindet sich in einem grundlegenden Wandel. Wir stehen vor ganz zentralen und für die Zukunft fundamentalen Herausforderungen. Ich nenne nur die Stichworte: anhaltende Massenarbeitslosigkeit, gerechte Verteilung der Güter, kritische Entwicklungen des Sozialstaates, ökologische Fragen, europäische Integration und Globalisierung der Märkte.

Die Kirchen können an solchen Herausforderungen nicht vorbeisehen. Es ist nicht ihre Aufgabe, politisch zu gestalten, aber sie wollen dazu beitragen, daß eine Gestaltung auf der Grundlage von Solidarität und Gerechtigkeit möglich ist. Aus diesem Grunde enthält das Gemeinsame Wort der Kirchen keine Rezepte oder ins einzelne gehende Handlungsanweisungen. Wir wollen in erster Linie die Köpfe und Sinne der Menschen erreichen, damit ein Mitdenken und ein Umdenken möglich wird. Es wird ständig von der notwendigen Innovation gesprochen: Was wir brauchen, ist zuerst eine mentale Innovation. Das heißt, wir brauchen neue Einstellungen und Phantasien, aber auch Bereitschaft, Offenheit und die Fähigkeit, sich auf Neues einzulassen. Wir müssen endlich auch einmal vom Standort des anderen aus denken und reden. Eine europa- und weltweite Sichtweise ist notwendig.

Es steht außer Zweifel: die anstehenden Probleme können nur gemeinsam gelöst werden. Bei der durchaus berechtigten Vertretung von Interessen erfordert die heutige Lage ein weit höheres Maß an Gemeinsamkeit, als dies derzeit der Fall ist. Jeder muß freilich auch wahrnehmen können, daß alle eine Last auf sich nehmen, jeder nach seiner Möglichkeit.


1. Es ist unser Ziel, zu einem neuen Grundkonsens beizutragen. Das christliche Menschenbild, die ethischen Traditionen der Bibel und die Sozialethik sind die Fundamente, von denen aus wir sprechen und urteilen. Freiheit und persönliche Verantwortung müssen neu zusammengebracht werden. Eines unserer zentralen Anliegen ist die Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft durch die Rückbesinnung auf ihre Grundintentionen und auf das sie tragende Wertegefüge. Manche haben diese Fundamente wohl vergessen. Das Maß ist der Mensch, nicht der Markt allein. Dabei ist es von grundlegender Bedeutung, die Freiheit des wirtschaftlichen Wettbewerbs und die Verwirklichung des sozialen Ausgleichs in ökologischer Verantwortung gleichwertig und gleichgewichtig zusammenzubringen.
Von dieser Absicht lebt unser Text. Ein Grundkonsens kann und will nicht alle Verschiedenheiten aufheben, aber er will eine gemeinsame Plattform sein, von der alle Erneuerung ausgeht. Dabei geht es um eine dauerhafte und zukunftsfähige Entwicklung (Prinzip der Nachhaltigkeit).

2. Solidarität und Gerechtigkeit fordern eine ausgleichende Verteilung der Lasten. Dies bedeutet notwendigerweise eine stärkere Belastung des Stärkeren zugunsten des Schwächeren. Es gibt ein unveräußerliches Recht auf Eigentum, aber die christliche Tradition hat dieses Recht nie als absolut und unantastbar betrachtet. Sie hat immer eine hohe Sozialpflichtigkeit des Eigentums vertreten. Deshalb bestehen die Kirchen auf einer entsprechenden Beteiligung der vermögensmäßig Stärkeren an der Finanzierung des Sozialstaates sowie an den Kosten der deutschen Einigung und nicht zuletzt auf einer gerechten Vermögensbeteiligung, auch am Produktivvermögen, wie wir es immer wieder vorgeschlagen haben.

3. Zur sozialen Gerechtigkeit gehört unabdingbar die Ermöglichung der Teilhabe, die Partizipation aller und zugleich die Verpflichtung aller zum Engagement. Auch aus diesem Grunde dürfen wir uns nicht an die Massenarbeitslosigkeit gewöhnen und sie nur mit den Mitteln des Sozialstaates zu mildern versuchen. Arbeitslosigkeit ist eine Verhinderung dieser Teilhabe, sie bedeutet für viele eine Ausgrenzung. Wir entdecken neu den Rang der Arbeit. Teilhabe ist Konkretisierung der Personwürde. Deshalb ist die Sozialstaatlichkeit kein Samariterdienst, er begründet sich in der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit. Wer vernünftig sein will, der muß gerecht handeln.

4. Gestärkt werden müssen neue Formen von Verantwortlichkeit, zum Beispiel auch im sozialen Bereich. Dazu gehören auch Selbsthilfegruppen und verschiedene Initiativen. Das Gemeinsame Wort spricht sich nachdrücklich im Sinne einer Option für die Armen aus und für die Schwachen, die Notleidenden und die Problemgruppen; gleichzeitig fordert es aber auch eine Stärkung der Eigenverantwortlichkeit und der gegenseitigen Hilfe mit dem Ziel einer erneuerten Sozialkultur. Hier wird auch ein hohes Maß an Ehrenamtlichkeit eingefordert.

5. Die Subsidarität als ein Gestaltungsprinzip für Staat und Gesellschaft gehört zu den zentralen Perspektiven des Gemeinsamen Wortes. Die Zuständigkeit und Verantwortung einzelner und kleiner Einheiten, insbesondere der Familie, muß erhalten bleiben und gestärkt werden. Ich denke dabei zuerst an junge Familien und an die Vereinbarkeit von Familie und beruflicher Tätigkeit. Der Staat muß durch Rahmenbedingungen und durch Hilfen die Möglichkeit schaffen zu einem eigenständigem, am Gemeinwohl und auch an Selbsthilfe orientierten Handeln. Der Sozialstaat darf nicht zu einem Wohlfahrtsstaat werden, der die Menschen in eine kollektive Geborgenheit nimmt, die Eigenverantwortung und Eigeninitiative schwächt oder gar erdrückt. Der Staat muß nicht alles regeln. Es gilt, ständig um die rechte Ausgewogenheit zu ringen: Erhaltung der staatlichen Sicherungssysteme und Förderung der Eigenverantwortung und des ausgewogenen Zusammenspiels von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft.

Wer einzelne Aussagen oder Sätze des Gemeinsamen Wortes benutzen will, um sie als Parteinahme für einzelne Gruppen oder Parteien zu mißbrauchen, verkennt das Anliegen der nunmehr rund dreijährigen Arbeit im Rahmen des Konsultationsprozesses. Es geht uns - um dies nachdrücklich nochmals zu betonen - darum zusammenzuführen, was oft getrennt ist, aber zusammengehört. Wir setzen auf Gemeinsamkeit gegen Egoismus; auf die Bereitschaft, aus alten Positionen auszubrechen, um die Zukunft so zu gestalten, daß alle nach den Grundsätzen von Solidarität und Gerechtigkeit in sozialem Ausgleich und in sozialem Frieden leben können.

Das Gemeinsame Wort ist kein letztes Wort. Wir gehen von der Erwartung aus, daß mit der Veröffentlichung des Textes weitere Diskussionen ausgelöst werden und viele Menschen sich mit uns auf den Weg machen, sich den Herausforderungen zu stellen und in gemeinsamer Verantwortung nach Lösungen zu suchen und um diese Lösungen ehrlich zu ringen. Wenn es dabei möglichst vielen gelingt, sich in die Lage des anderen zu versetzen, um ihn zu verstehen, dann hat dieses Gemeinsame Wort ein wichtiges Anliegen erfüllt.

Niemand sollte dabei mit alten Mentalitäten in neue Gespräche gehen, oder gut biblisch: "Auch füllt man nicht neuen Wein in alte Schläuche... Neuen Wein füllt man in neue Schläuche." (Mt 9,17)


Bonn/Hannover, 28. Februar 1997