Eröffnung der „Woche für das Leben“ Darf ich sterben-muss ich leben?

Jochen Bohl, Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens

03. Mai 2014

„Herr, dir in die Hände/ sei Anfang und Ende, sei alles gelegt!“

Liebe Gemeinde,

das Neujahrswort Eduard Mörikes spricht vom Gottvertrauen. Es ist ein Geschenk, das für gläubige Menschen ein Trost ist in Lebenskrisen und eine Ermutigung, zuversichtlich die Aufgaben anzupacken, die das Leben stellt. Im Lauf der Zeit, prägt es die Weltsicht und sogar die Persönlichkeit – gottlob! Ja, „Herr, dir in die Hände/ sei Anfang und Ende, sei alles gelegt!“ damit kann man leben. Zu dem Geist unserer glaubensarmen Zeit steht das Wort im Widerspruch. Denn für viele, vermutlich die meisten Menschen ist die Maxime, an der sie ihr Leben ausrichten, eine andere: selbst bestimmen können, die Lebensfragen für sich selbst entscheiden. Ob das ein Widerspruch ist – hier das Gottvertrauen; da die Autonomie, die Freiheit? Ganz einfach ist das Verhältnis des einen zum anderen nicht zu bestimmen.

Auch Christinnen und Christen genießen die Freiheit, dem eigenen Leben eine Gestalt zu geben. Meine Frau und ich haben versucht, unsere Kinder so zu erziehen, dass sie selbständig den Herausforderungen des Lebens zu begegnen wissen, nicht in Abhängigkeit geraten angesichts zahlloser Versuchungen, die unfrei machen können; urteilsfähig zu sein angesichts der vielen Entscheidungen, die einem tagtäglich unter verwirrenden Umständen abverlangt werden – das ist notwendig in diesen modernen Zeiten, in denen sich die Dinge so rasch verändern. So viele Optionen, das eigene Leben zu gestalten hat es wohl niemals gegeben. Noch das  Leben der Generation vor uns war gekennzeichnet von Begrenzungen und Zwängen, die nur hingenommen werden konnten; heute aber genießen die Menschen wie selbstverständlich die Möglichkeiten, nach eigenem Gutdünken zu Tun und zu Lassen. Sitten, Gebräuche und Konventionen sind verblasst, und darüber hat sich ein Raum der Freiheit aufgetan, der von jedem und jeder nach eigener Einsicht gestaltet sein will. Autonomie ist darum ein hohes Gut – aber es ist beileibe nicht so, als wäre damit alles gesagt.

Denn unübersehbar sind die Gefahren, die mit den neu gewonnenen Freiheiten einhergehen. Die Ehen und Familien sind zerbrechlich geworden, viele Menschen tragen nach erlittenen Trennungen Verletzungen an ihrer Seele, die nicht heilen wollen. Hochbetagte sterben einsam und verlassen, und ihre Not bedrückt die oft heillos überforderten Pflegekräfte. Es gibt für eine gute Entwicklung bei weitem zu wenige Geburten. In den großen Städten steigen die Zahlen der vernachlässigten und misshandelten Kinder… aus den krisenhaften Entwicklungen folgt, dass Freiheit eben doch nicht „das einzige, was zählt“ ist, wie es in einem vielgehörten Song hieß. Vielmehr verlangt ein gutes Leben nach Bindungen und Orientierung, nach gemeinschaftsdienlichen Haltungen, und Überzeugungen, die sie stiften, nach Verantwortlichkeit. Der Autonomiegedanke trägt die Gefahr in sich, dass die Egos der Individuen unverbunden nebeneinander stehen und die Gemeinschaften darüber schwach werden, keinen Halt zu geben vermögen.

Wir Christenmenschen sehen auf Jesus Christus, den Anfänger und Vollender des Glaubens. In ihm erkennen wir uns selbst und die Wahrheit, zu der wir berufen sind, finden zu dem menschlichen Maß, das uns bestimmt ist. Sein Leben war in allem zutiefst bestimmt von dem Vertrauen auf seinen himmlischen Vater und zugleich von dem Liebesgebot, das er den Seinen wieder und wieder groß werden ließ und durch seine Taten verdeutlichte. Ihm folgen wir nach und mit ihm vertrauen wir uns der Güte Gottes an, der uns das Leben geschenkt hat; nicht etwa haben wir es uns selbst gegeben. Sondern haben es aus Gottes Hand empfangen. Darum ist es uns heilig, von seinem Beginn bis an das Ende.

Martin Luther hat in seinem Kleinen Katechismus in der Erklärung des ersten Artikels von der Schöpfung so formuliert: „Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele gegeben hat … und noch erhält; … mit allem, was not tut für Leib und Leben mich reichlich und täglich versorgt … und vor allem Übel behütet und bewahrt.“ Gott schenkt, dass ich leben darf. Mein Leben liegt an jedem Tag in seiner Hand, aus seiner Hand habe ich es empfangen. Darum ist es  nicht an uns, das Geschenk des Lebens zu verwerfen. Wir freuen uns, das Leben mit Kindern teilen zu dürfen, verstehen sie als ein Gottesgeschenk, das uns gemacht wird. 

Geborgen im Gottvertrauen hat das Leben einen Sinn bis zuletzt, es liegt bis zu seinem Ende in Gottes Hand, wir hoffen auf das neue und unvergängliche Leben in der Ewigkeit Gottes. Den Tod empfangen wir zu dem Zeitpunkt, der uns bestimmt ist. Selbstverständlich sehen wir es so, dass Sterben nicht künstlich in die Länge gezogen werden soll. Ich bin dankbar, dass es in den letzten Jahren auch in der Medizin ein Umdenken gegeben hat und inzwischen ein breites Einvernehmen und eine verantwortliche Praxis. Es gehört zur Würde eines Menschen, dass der natürliche Prozess des Sterbens nicht künstlich verzögert wird. Vielmehr kommt es darauf an, das Leid, das damit verbunden sein kann, so weit zu lindern, wie es der medizinischen Wissenschaft möglich ist. Erstaunliche Fortschritte hat die Palliativmedizin gemacht, und diese Entwicklung ist noch nicht an ihrem Ende. Auch und gerade die Hospizdienste, die in den letzten Jahrzehnten überall entstanden sind, sprechen von der Hochschätzung des menschlichen Lebens in bewegender, unmissverständlicher Weise – wir danken allen, die ihre Kräfte einsetzen, dass Leiden gelindert wird und Menschen in Frieden sterben können. Die Humanität einer Gesellschaft zeigt sich nicht zuletzt im Umgang mit den Sterbenden.

Liebe Gemeinde,

Paulus hat gesagt, dass Christus uns zur Freiheit befreit hat. (Gal.5,1) Ja, Gott stellt unsere Füße in einen weiten Raum (Psalm 31,9), den wir gestalten dürfen. Eduard Mörike hat zum Ausdruck gebracht, was darin für uns Gläubige gilt:

Herr, dir in die Hände/ sei Anfang und Ende, sei alles gelegt!