Predigt über Jeremia 1, 4 – 10 zur Eröffnung der Internationalen Konferenz der Societas Homeletica in der Schlosskirche Wittenberg

Nikolaus Schneider

10. August 2012

Liebe Gemeinde,

Krisen und Katastrophen gab es zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte

– nicht nur für das Volk Israel vor mehr als zweieinhalb Jahrtausenden, 
– und auch nicht nur heute, wo viele Menschen in Europa unter einer Finanz- und Staatsschuldenkrise leiden und wo uns allen durch die Medien jeden Tag neue Katastrophenbilder aus vielen Teilen unserer Welt vor Augen geführt werden.

Krisen und Katastrophen erlebten und erleben Menschen zu allen Zeiten in ihren nationalen und religiösen Lebensbezügen und auch in ihren ganz persönlichen Lebensgeschichten.

Gerade in solchen Zeiten von Krisen und Katastrophen brauchen Völker und brauchen Menschen einen Trost, der gebunden ist an neue Einsicht und neue Erkenntnisse.
Sie brauchen Hoffnung, Gewissheit und Lebenszuversicht, die auch in Krisen und Katastrophen Bestand haben und nachhaltig wirken.
Sie brauchen keine billige Vertröstung und keine flachen Sprüche.

Ein solcher nachhaltiger Trost erfordert mehr als schöne Worte und Streicheleinheiten.
Ein solcher Trost erfordert auch einen realistischen Blick auf die Ursachen und Auswirkungen der Krise und Katastrophe.
Er erfordert auch die Konfrontation mit eigenem Fehlverhalten und die Bereitschaft, eigene Einstellungen und eigenes Verhalten zu verändern.

Die Bibel erzählt davon, dass und wie Gott seinen Menschen nachhaltigen Trost in Zeiten von Krisen und Katastrophen schenkt. Wie er beispielsweise in den Krisen- und Katastrophenzeiten seines Volkes Propheten erwählt und berufen hat.
Einer dieser Propheten war Jeremia. Seine Berufungsgeschichte ist der Predigttext für diesen Gottesdienst. Sie wird uns in den Versen 4 bis 10 des ersten Kapitels im biblischen Jeremiabuch erzählt:

„Und des HERRN Wort geschah zu mir:
Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleib bereitete,
und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest,
und bestellte dich zum Propheten für die Völker.
Ich aber sprach: Ach, Herr HERR, ich tauge nicht zu predigen;
denn ich bin zu jung.
Der HERR aber sprach zu mir:
Sage nicht: „Ich bin zu jung“, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende,
und predige alles, was ich dir gebiete.
Fürchte dich nicht vor ihnen, denn ich bin bei dir und will dich erretten,
spricht der HERR.
Und der HERR streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund.
Siehe, ich setze dich heute über Völker und Königreiche,
dass du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst
und bebauen und pflanzen.“   

Nach biblischem Verständnis können Menschen sich nicht selbst und auch nicht einander zu Propheten ernennen – nicht aufgrund einer besonderen Ausbildung und auch nicht mit Hilfe einer frommen Zeremonie.
Die Bibel erzählt uns davon, dass Gott selbst sich Propheten aus den Menschen aussucht und aussondert.
Gott allein entscheidet, welchen Menschen er in bestimmten Situationen sein Wort und seine Wahrheit in so besonderer Weise offenbart,
dass dieser Mensch die Welt mit Gottes Augen zu sehen und Gottes Worte mit seinem Mund zu sprechen vermag.

Das Propheten-Amt ist kein Wahl-Amt, auf das Menschen sich bewerben könnten.
Und das Propheten-Schicksal ist kein Schicksal, das Menschen sich ersehnen und erträumen.

Jochen Klepper hat diese Einsicht in ganz eindrücklicher Weise so verdichtet:

„Kein Prophet sprach: ‚Mich Geweihten sende!’
Eingebrannt als Mal war es in allen:
Furchtbar ist es dem Menschen, in die Hände
Gottes des Lebendigen zu fallen.

Kein Prophet sprach: ‚Mich Bereiten wähle!’
Jeder war von Gottes Zorn befehdet.
Gott stand dennoch jedem vor der Seele,
wie ein Mann mit seinem Freunde redet.

Kein Prophet sprach: ‚Gott, ich brenne!’
Jeder war von Gott verbrannt.
Kein Prophet sprach: ‚Ich erkenne!’
Jeder war von Gott erkannt.“
(Jochen Klepper, Ziel der Zeit, Die gesammelten Gedichte, Bielefeld 1977)
  
Jeremia hatte also keine Wahl.
Das Propheten-Amt war ihm von Gott zugedacht, noch bevor er gezeugt wurde.
Und:
Jeremia ist nicht freudig überrascht oder gar stolz auf seine Aussonderung und Berufung durch Gott.
Jeremia quälen Angst und Selbstzweifel.
Jeremia fühlt sich zu jung und zu unerfahren.
Das Schicksal eines Unheil-Propheten schreckt ihn.
Er weiß:
Es ist nicht einfach, Menschen unangenehme Wahrheiten zu sagen, ihre Selbstgerechtigkeit und scheinheilige Frömmigkeit zu demaskieren und Gottes Gericht anzukündigen.
Jeremia fürchtet die Missachtung und Verachtung durch seine jüdischen Volksgenossen, er fürchtet Einsamkeit und Verfolgung. Zu Recht.

Gott zieht seine Berufung angesichts von Jeremias berechtigter Angst nicht zurück.
Aber Gott nimmt Jeremias Angst ernst und setzt dieser Angst sein göttliches Versprechen entgegen:

Jeremia, fürchte dich nicht vor den Reaktionen der Menschen.
Denn ich bin bei dir und werde es nicht zulassen,
dass Menschen dich mundtot machen
oder dass sie dein Leben endgültig zerstören.
Ich, dein Gott, will dich erretten!

Und Gott besiegelt seine Berufung mit einer einzigartigen Zeichenhandlung:
Gott legt seine Hand auf Jeremias Mund.
Damit stärkt Gott in Jeremia die Gewissheit:
Gottes Wort geht auf ihn über.
Gottes Wort wird fortan seinen Geist und seinen Mund inspirieren.  

Liebe Gemeinde,
die Pfarrer und Pfarrerinnen unserer Kirche sind nicht in dieser Weise von Gott berufene Propheten. Das ist das erste, was wir uns Angesicht dieses Predigttextes klarmachen müssen.
Kirchliche Berufungen sind ganz grundsätzlich nicht mit göttlichen Prophetenberufungen zu parallelisieren  und besonders nicht mit Jeremias Berufung zu dessen Propheten-Amt.
Die Berufungsgeschichte des Propheten Jeremia ist eine einzigartige Geschichte.
Und es liegt nicht in unserer Macht, für unsere gegenwärtigen Krisen und Katastrophen den Mund auserwählter Menschen wie mit Gottes Hand zu berühren und damit dessen Menschenworte zu Gottes Worten zu machen – wie erfolgreich auch immer wir mit unseren homiletischen Erkenntnissen und Bemühungen sein mögen.

Zwei Aspekte dieser Berufungsgeschichte aber scheinen mir doch von zeitloser Bedeutung zu sein für alle Menschen, die sich der Begegnung mit Gott und mit seinem Wort stellen und die es als ihren Auftrag ansehen, Gottes Wort zu predigen:

1. Die Begegnung mit Gott erfüllt Menschen nicht nur mit Stolz und Freude, sondern oft auch mit Furcht und Erschrecken.  
Und
2. Gottes Wort beauftragt Menschen oft auch zur Verkündigung von unbequemen und unangenehmen Wahrheiten.


Zum Ersten:
Die Begegnung mit Gott erfüllt Menschen nicht nur mit Stolz und Freude, sondern oft auch mit Furcht und Erschrecken.  

Ich weiß nicht, ob es Ihnen auch so geht:
Mich erschreckt der Gedanke, dass Gott mich besser kennt als ich mich selbst. Es ist mir unangenehm, zu glauben:
Gott weiß immer und überall, was ich gerade denke und fühle.
Gott durchschaut alle meine Masken.
Er merkt es sogar, wenn ich mir selbst etwas vormache.

Und noch widerständiger ist mir der Gedanke,
dass Gott mein Leben schon vor meiner Geburt vorgeplant haben könnte.
Dass alle meine Entscheidungen nur Teil seines großen göttlichen Planes wären. Dass meine Freiheit nur eine Illusion ist.

Die Vorstellung, dass Gott wie ein Marionettenspieler die Menschen nur an Fäden auf einer großen Weltbühne nach seinem Willen tanzen lässt, entspricht nicht meinem Gottesbild – und auch nicht dem Gottes- und Menschenbild der Bibel. Sonst wäre der Ruf zum verantwortlichen Leben sinnlos.
Gut also, dass die Berufungsgeschichte des Jeremia die einzigartige Geschichte eines einzigartigen Propheten ist.

Und doch ist meines Erachtens das Bekenntnis für den christlichen Glauben unverzichtbar:
Gott ist der Schöpfer und HERR der Welt und allen Lebens.
Gott hält auch den Anfang und das Ende meines Lebens in seiner Hand.
Gott hat die Macht, in die Geschichte der Welt und in die Geschichte meines Lebens wirkmächtig einzugreifen.

In diesem Glauben erfahren und erkennen wir:
Die Rede von einem allezeit „lieben Gott“ wird Gottes Handeln und Gottes Willen nicht gerecht.
Wie unser Reformator Martin Luther es erkannt, gepredigt und als Vorspruch für seine Erklärung zu allen 10 Geboten gewählt hat:
Wir Menschen sollen Gott „fürchten und lieben“.

Ohne Furcht und Ehrfurcht vor Gott werden wir zu leicht der Gefahr erliegen, uns ein Gottesbild nach unseren eigenen Bedürfnissen zu formen.
Ein Gottesbild, das uns zur eigenen Selbstrechtfertigung dient,
das unsere konfessionellen Festlegungen und unseren alltäglichen Lebensstil nicht infragestellt,
das uns an Sonn- und Feiertagen nur mit angenehmen Gefühlen erfüllt.

Ein solches Gottesbild steht jedoch im Widerspruch zu dem Gott, der uns in der Bibel bezeugt wird.
Und ein solches Gottesbild zerbröselt ganz schnell, wenn wir Krisen und Katastrophen erleben, wenn unsere Hoffnungen enttäuscht werden oder wenn wir uns unserem eigenen Versagen stellen müssen.

Wenn wir unser Herz und unseren Verstand aber für Gottes Wort und für Gottes Geist öffnen, dann werden wir erfahren:
Die Begegnung mit Gott und mit Gottes Wort wird uns Menschen nicht immer mit Stolz und Freude, sondern manchmal auch mit Furcht und Erschrecken erfüllen. Aber auch in diesem Erschrecken bleibt entscheidend: Der lebendige Gott ist mit uns unterwegs, und zwar immer!  

Und zum Zweiten:
Gottes Wort beauftragt Menschen oft auch zur Verkündigung von unbequemen und unangenehmen Wahrheiten.

Vor mehr als zweieinhalb Jahrtausenden warnte der Prophet Jeremia im Namen und im Auftrag Gottes sein Volk vor Krieg, Zerstörung und dem Verlust seiner Heimat.
Jeremia musste erleben, dass seine Warnungen missachtet wurden und dass die angekündigte Katastrophe eintrat.
In der Katastrophe dann versuchte Jeremia die Hoffnung am Leben zu halten, dass nach dem Tag des Gerichts ein Tag der Befreiung kommen würde, an dem sein Volk wieder in die die Heimat zurückkehren könnte.
Die Geschichten und Worte des Propheten Jeremia wurden wahrscheinlich in der Exilszeit aufgeschrieben, um den Israeliten eine neue Erkenntnis und neue Hoffnung zu schenken.
Im Hören und Bedenken der Geschichten und Worte, die von dem Propheten Jeremia überliefert wurden, erkannten die Verzweifelten:

- Es hilft nicht, die Schuld für unsere verzweifelte Lage auf Könige, Politiker, Priester und Propheten abzuschieben.
- Wir alle hatten Augen, um zu sehen und haben nicht gesehen.
- Wir alle hatten Ohren, um zu hören und haben nicht gehört.
- Wir haben uns blind und taub gestellt – aus Bequemlichkeit und Selbstsucht und weil es so viel leichter ist, mit Illusionen in den Tag hinein zu leben!

Mit dieser Einsicht wuchs in ihnen zugleich die tröstende Gewissheit:

Der jetzt so mächtig erscheinende und auftretende König von Babel ist letztendlich nur ein Werkzeug in Gottes Hand.
Der eine und einzige Gott ist der Gott Israels.
Er ist der HERR der Welt und der HERR der Geschichte.

Jeremia hat seinen Zeitgenossen unbequeme und unangenehme Wahrheiten zugemutet. Aber genau das war für das Volk Israel im Wortsinn „Not-wendig“ in der Zeit der Katastrophe.
Der Schriftsteller Jürgen Rennert beschreibt das so:

„Jeremia sein heißt,
unbarmherzig und früh gefordert zu werden
heißt auszuharren
heißt dranzubleiben
heißt sich nicht einzuschmeicheln weder beim Volk noch beim König,
heißt ja zu sagen zum Joch eigener und fremder Geschichte,
heißt Gottes Vernunft als politisch vernünftig anzuerkennen und zu verteidigen
heißt wider eigenes Wünschen recht behalten zu müssen…“
(Jürgen Rennert, zitiert nach Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext zur Perikopenreihe IV 2011, S. 281)

In der jüdischen Tradition gilt der Prophet Jeremia als der „Prophet der Tränen“, weil er mit seiner Botschaft den Menschen Israels Tränen gebracht hat.
Aber Jeremias Botschaft zielte mit diesen Tränen auch auf Hoffnung, auf die tröstende und in der Katastrophe standhaltende Hoffnung:

Die Gerechtigkeit Gottes will das Verhalten der Menschen nicht verdammen, sondern „ zu-Recht“ rücken.
Und Gottes Gericht will Menschen letztendlich nicht vernichten, sondern retten!

Damals galt es für Israel und heute gilt es für uns:
Gottes Wort konfrontiert uns Menschen auch mit unbequemen und unangenehmen Wahrheiten.
Unsere Bindung an Gott und an sein Wort muten uns Menschen immer wieder neue Einsichten, Reue und Umkehr zu.
Aber Gottes Wort schenkt uns Menschen Hoffnung in unseren Krisen und Katastrophen, wenn wir in Unrechtstrukturen verstrickt sind oder wenn wir über uns selbst und über unser eigenes Versagen verzweifeln wollen.
Denn der Gott Israels ist der eine und einzige Gott aller Völker und aller Welt. In dem Juden Jesus von Nazareth hat Gott sein Wort und seinen Willen für alle Menschen und für alle Zeiten offenbar gemacht.

Und in seinem lebendigen Wort Jesus Christus spricht Gott auch heute und auch hier in Wittenberg zu uns, wenn wir um ein „rechtes Predigen“ ringen:
Fürchtet euch nicht, wenn mein Wort euch in die Verantwortung ruft, eure Zeitgenossen mit unbequemen Wahrheiten zu konfrontieren.
Fürchtet euch nicht vor den Reaktionen von Menschen und Medien, wenn mein Wort widerständig bleibt gegenüber der öffentlichen Meinung und gegenüber den Interessen und Wünschen der Mächtigen.
Denn ich bin bei Euch und werde es nicht zulassen,
dass Menschen und Meinungsmacher euch und euer Leben endgültig zerstören.
Euer Leben ist letztgültig bei Gott bewahrt!

Amen