Predigt im Berliner Dom am 2. Sonntag nach Ostern (Joh. 21, 15-19)

Manfred Kock

29. April 2001

1. Ein Nachtrag zum Geschehenen und eine Vorausschau

Ein Nachtrag ist diese Geschichte wie das 21. Kapitel des Johannesevangeliums überhaupt.
„Im Anfang war das Wort“, so hatte es begonnen. „Und das Wort wurde Fleisch“, lebendige und anschauliche Liebe - in dem Mann aus Nazareth. „Es ist vollbracht“, so stirbt er, gehorsam bis zum Tod, am Kreuz.
Einige Frauen und einige Jünger haben den Gekreuzigten lebendig gesehen. Auch Thomas, der ‚der Ungläubige‘ genannt wird, hat schließlich zum Bekenntnis gefunden: „Mein Herr und mein Gott.“ Und das Vermächtnis an die Christenheit bis heute lautet: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ Das Evangelium ist damit abgeschlossen, zwei Schlussverse fassen alles zusammen.

Aber dann wird noch ein Kapitel angehängt, das 21. Kapitel. Es eröffnet, wie die Liebe lebendig bleibt bis heute. Am See Tiberias spielt die Geschichte, am See Genezareth. Die Jünger sind am See und fischen, wie einst, ehe sie dem Wanderprediger begegnet waren. Sie erleben die gleiche Vergeblichkeit,  wie damals, als Petrus und die drei anderen zu Jüngern berufen wurden. „Sie fingen keinen einzigen Fisch“. Dann die gleiche Überraschung und das gleiche Staunen über das Wunder. Ein Fischfang nach vergeblicher Nacht auf Jesu Geheiß. Diesmal zerreißt das Netz nicht. Eine glückliche Wiederholung, ein neuer Anfang, ein neuer Ruf.

„Und Jesus stand am Ufer“, heißt es. Sie halten mit ihm das gemeinsame Mahl. „Kommt und esst“, ist seine Einladung. ‚Da gingen ihnen die Augen auf.‘ Sie wissen, er ist es. Sie wagen nicht, ihn anzusprechen.
Es gibt Stunden, da sind Worte nicht mehr nötig. Und in das Schweigen hinein folgt nun dieser Abschnitt, den ich jetzt lese:

Als sie nun das Mahl gehalten  hatten,
spricht Jesus zu Simon Petrus: Simon,
Sohn des Johannes, hast du mich lieber,
als mich diese haben? Er spricht zu ihm:
Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe.
Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Lämmer!
Spricht er zum zweiten Mal zu ihm:
Simon, Sohn des Johannes, hast du mich
lieb? Er spricht zu ihm: Ja, Herr, du weißt,
dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu
ihm: Weide meine Schafe!
 

Spricht er zum dritten Mal zu ihm: Si-
mon, Sohn des Johannes, hast du mich
lieb? Petrus wurde traurig, weil er zum
dritten Mal zu ihm sagte: Hast du mich
lieb?, und sprach zu ihm:. Herr, du weißt
alle Dinge, du weißt, dass ich dich lieb
habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine
Schafe!
Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Als
du jünger warst, gürtetest du dich selbst
und gingst, wo du hin wolltest; wenn du
aber alt wirst, wirst du deine Hände aus-
strecken, und ein anderer wird dich gürten
und führen, wo du nicht hin willst.
Das sagte er aber, um anzuzeigen, mit
welchem Tod er Gott preisen würde. Und
als er das gesagt hatte, spricht er zu ihm:
Folge mir nach!

Dreimal die Fragen: „Hast du mich lieb?
Simon, hast du mich lieb? Mehr als die anderen?“

Kein Vorwurf für die Verleugnung, aber dreimal die Frage: „Hast du mich lieb?“
Wir lesen und hören die Geschichte nach langem historischem Abstand. Wir sind vertraut und nehmen vielleicht die Überraschung nicht wahr. Simon Petrus, das ist der Verleugner; dreimal hatte er behauptet, ihn, den gefangenen Jesus, nicht zu kennen. Eben hatte er doch großspurig behauptet:  „Wenn auch alle anderen sich davon machen, ich will bei dir aushalten.“ Und dann hatte der Hahn gekräht und die Scham hatte ihn überfallen. Er hatte bitterlich geweint.

„Simon, hast du mich lieb?“, dreimal.
Kein Vorwurf. Der Verrat wird nicht geahndet. Nur ‚Simon hast du mich lieb?‘ Und dreimal, ‚weide meine Lämmer‘.

2. Der neue Anfang

Viele wunderschöne Auslegungen gibt es über diesen Abschnitt. Sie verweisen auf die seelsorgerliche Zuwendung Jesu. Geradezu als ein therapeutisches Geschehen, als gelungene Trauerarbeit könne die Gesprächsführung Jesu gelten. Er konfrontiert mit der Schuld, ohne sie vorzuhalten. Eine positive Wendung: ‚Hast du mich lieb?‘, und bewahrt so vor dem Zwang der Wiederholung.
Solche  Auslegungen sind hilfreich,  sie entdecken viel über die Kraft der Liebe, die den am eigenen Versagen Leidenden zurückholt aus seiner Scham und seiner Verzweiflung. Denn nichts als die Liebe ist ja dazu im Stande, Menschen zurück zu holen aus ihrer Verirrung; weder Vorhaltungen noch Vorwürfe, noch Drohungen, noch Sanktionen helfen da.

Ich will das nicht vertiefen. Ich möchte auf einen anderen Zug dieser Geschichte verweisen. Der steht nicht im Widerspruch zu solch seelsorgerlicher Auslegung, sondern er schöpft gleichsam aus ihr.
Hier, im 21. Kapitel des Johannesevangelium, wird die Geschichte vom Fischfang des Petrus erzählt als eine Wiederholung der ersten Geschichte, die zur Berufung des Simon Petrus in die Nachfolge führte. Hier wird eine glückliche Wiederholung berichtet. Diesmal ist das Netz nicht zerrissen. Die Berufung des Petrus wird erneuert. Der Auferstandene sagt ihm: ‚Weide meine Lämmer.‘ Der Auftrag an Simon Petrus wird erneuert. An ihn, so wie er ist: der Verleugner, der Feigling. Er wird der Bote sein, trotz seines Versagens. Er kann neu beginnen. „Folge mir nach“, sagt Jesus.

Nichts anderes ist die Voraussetzung für die Nachfolge Jesu, als dieses: ‚JA, du weißt, dass ich dich lieb habe.‘ Ein unfehlbares Papstamt in der Nachfolge dieses Petrus zu begründen, das fällt mir äußerst schwer.
Aber wichtiger ist:
Nicht mit Petrus allein geht das so, nicht sein spezieller Auftrag und seine besondere Erfahrung vollziehen sich hier nach diesem Muster. So ist das Modell jeder Christuserfahrung. Suchend nach Orientierung, immer in Vergeblichkeit gefangen und in Schuld, werden Christen in den Dienst genommen. Eine Vorbedingung an ihren Charakter, an ihre menschlichen Qualitäten wird nicht genannt.

Lassen Sie mich über unsere Kirche sprechen, über unsere evangelische Kirche in unserem Land. Viele registrieren ihren Bedeutungsverlust. Das steigert die Gleichgültigkeit von außen und die Minderwertigkeitskomplexe von innen.
Am Beginn dieses Jahrhunderts findet sich unsere Kirche auf einem religiösen Markt wieder mit einer Fülle verwirrender Angebote. Manche vermissen bei unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Fantasie und Fleiß, um auf diesem Markt zu bestehen. Abgesehen davon, dass diese Einschätzung gar nicht zutrifft - die verwirrende Vielfalt ist nichts Neues, und sie ist kein Unglück. Auch die Wiege des Christentums vor 2000 Jahren stand auf einem religiös vielfältigen, verwirrenden Markt. Wir brauchen nicht zu verzagen, auch wenn die Zahlen bei uns zurück gehen. Zumindest brauchen wir uns in Sorge um unsere Kirche nicht auf trügerische Anker zu verlassen. Wirklich und wirksam ist unsere Kirche, wenn sie Ihn verkündet, den lebendigen Christus, neben dem die Götzen keinen Platz haben, nicht die des Konsums und der Börse,  nicht  die der Gleichgültigkeit und des Egoismus, auch nicht die der Perfektion und der Überheblichkeit. So wie Simon Petrus mangelhaft und schwach als Mensch, so können wir uns rufen lassen, trotz unserer Schwäche, mit unseren Gaben.

3. Nachfolge

 „Weide meine Lämmer!“ Dahinter steht das Bild einer Kirche, die nicht bei sich selber bleibt.
Nachfolgen,
den Weg Jesu gehen.
Kreuz tragen.
Das ist nicht das Bild einer machtvollen Kirche. Die Kraft der Anfänge war die Treue in der Nachfolge. Später dann entwickelte sich die Christenheit anders. Oft genug paktierte sie mit den Mächtigen, sie übte selber Macht aus. Und nun leben unsere Kirchen mit der bösen Schimäre ihrer Geschichte, mit dem, was sie im Interesse der Macht angerichtet haben.

Schon die biblischen Bilder der Sendung in die Welt hinein, leiden daran, wie sie in ihrer Auslegung missverstanden und in ihrem Gehalt missbraucht wurden. „Du wirst Menschen fischen“, hatte es bei der ersten Fischfanggeschichte geheißen. Das wird dem Petrus aufgetragen, und das Bild vermittelt manchem, wie Menschen zappeln im Netz.
Hier bei Johannes heißt es: ,Weide meine Schafe.‘
Der Satz ist ebenso missbrauchbar wie der vom Fischfang, und ebenso oft missverstanden. Wie viele Presseüberschriften und Artikel gibt es, in denen Kirche immer ein Gebilde ist mit Schäfchen, die beisammen gehalten werden sollen oder wollen. Wir tragen die Folgen unserer Herrschaftsgeschichte. Das Petrusamt in seiner Ausgestaltung trägt diese Hypothek und jeder Pastor auch, der ein Hirte ist.
 
Das biblische Bild vom Hirten bedeutet aber nicht: Einer geht voran und die anderen blökend hinterdrein. Der Hirte will nicht gängeln, dominieren, beherrschen. Der Hirte ist vielmehr der fürsorglich Schützende - wie eine Mutter, bergend und bewahrend. Er versteht was vom Lebendigen. Er sorgt, dass dem Schwachen nichts Böses geschieht.
In dieses Bild ist Jesus hineingestellt. Er ist der gute Hirte, er lässt das Leben für die Schafe.

4. Folget mir nach

Mit einem sprichwörtlichen Satz vollendet sich die Geschichte für Petrus. Dieser Satz beschreibt die Struktur fast jeder Biographie.
„Als du jung warst, hast du dich selber gegürtet und gingst, wohin du wolltest. Im Alter wird ein anderer dich gürten und dir die Hand reichen und dich führen, wohin du nicht willst.“

Auf Petrus bezogen heißt das: „Dein Weg hat als Konsequenz das Martyrium.“ Das ist ein Weg, den niemand sich selber aussucht.

Nicht alle werden den Weg gehen ins Martyrium hinein. Aber jeder Weg, den wir in der Nachfolge gehen, ist ein auferlegter Weg.
Reif werden heißt, erkennen, dass wir geführt werden vom göttlichen Ruf. Unsere Lebensstationen kennen wir. Oft ging es anders als wir wollten. Das Heilsame ist darin zu erkennen, am Ende stellt es sich heraus.
„Führen wohin du nicht willst“, Jesus steht am Ufer, der Lebendige. Unser Lebensprozess geht immer durch das Sterben hindurch. Wir buchstabieren die eigene Schuld, in die wir uns verstrickt hatten.
‚Hast du mich lieb?‘, fragt der, der das Mahl uns bereitet. Er heilt unser Versagen und führt uns ins Gelingen. Das ist  unser Trost. Das ist auch der entscheidende Trost für unsere Kirche und ihren Weg. Soviel Verwirrung gibt es in dieser Zeit, so groß ist die Sehnsucht nach Orientierung.
Wer anders kann für sie dazu stehen als der, der Leid und Tod durchlitten und überwunden hat.
Eine Ostergeschichte. Als das Evangelium schon zu Ende erzählt ist, wird sie noch angefügt. Eine Geschichte, die alle hinein nehmen möchte in den Weg der Hoffnung und Zukunft.