Besser zu zweit als allein

Bericht von Pfarrer Burkhard Bartel aus Thailand (02.01.2005; 23.30 Uhr Ortszeit)

03. Januar 2005


Petra berührt mit beiden Händen den goldfarbenen Sarg, der auf den Holzscheiten aufgebahrt liegt. In wenigen Augenblicken wird das Feuer hell lodern, mit dem sie ihrem Lebenspartner und drei weiteren Freunden die letzte Ruhe geben will, auf thailändischem Boden, vor dem großen Tempel an der Küste von Khao Lak. Sie sind von der Tsunami-Welle überrascht und von der Gewalt des Wassers auseinandergerissen worden. Ihren Partner fand sie tot bei den vielen Leichen, die zum Tempel gebracht wurden. „Er war der beste Mensch für mich.“ Nach ihrem stillen Abschied wird das Feuer gebracht. Sie dreht sich um und geht zu Menschen, die mit ihr weinen und trauern. Sie möchte nicht allein sein.

Gestern Abend sind meine Frau Isolde und ich aus Khao Lak zurückgekommen. Wir waren seit Montag am Ort des Schreckens nach der großen Welle, die auch Thailand getroffen hat. Am 26. Dezember machten wir uns nach den Weihnachtsgottesdiensten auf den Weg nach Süden in den Urlaub. Gleich bei der Ankunft in einem Gästehaus an der Ostküste sahen wir die ersten Fernsehbilder einer Katastrophe, die wir nicht so recht einordnen konnten. Wir hörten das Stichwort Erdbeben, sahen aber große Verwüstungen durch Wasser. Erst das Wort Tsunami erhellte uns den Zusammenhang. An Urlaub war also nicht mehr zu denken. Nur wenige Kilometer von uns entfernt muss Schreckliches geschehen sein. Am nächsten Tag kamen wir an die Küste von Khao Lak.

Der erste Schock lässt mich verstummen, ich verliere fast meine Stimme

Die Straße ist schon freigeräumt von schwerem Gerät. Wir sollen zum Magic Lagoon Hotel kommen, wo sich Mitarbeiter der Deutschen Botschaft und andere Helfer treffen wollen. Wir realisieren erst nach und nach, was geschehen ist. Weite Flächen rechts und links der Straße sind wie leergefegt. Die Bäume und Beton-Telefonmasten sind wie Streichhölzer umgelegt. Wie viele Menschen werden hier gelebt und gearbeitet oder Ferien gemacht haben? Es ist Hauptsaison, die Hotels sind ausgebucht. Wir haben deshalb erst gar nicht versucht noch ein Zimmer in Strandnähe zu mieten. Ich warte auf Schreie und Hilferufe. Aber es ist merkwürdig still. Das Unglück geschah ja schon vor 30 Stunden. Die Verletzten sind geborgen worden, die Toten sind noch nicht gefunden. Jemand spricht von Nachbeben und möglichen weiteren Wellen. Wir haben Angst.

Wir finden kein Zimmer mehr und schlafen wenige Stunden im Auto. Am nächsten Morgen fahren wir zu einigen zerstörten Hotels und Gästehäusern. Weite Abschnitte der Küste sind wie leergefegt, die Bungalows bis aufs Fundament weggespült. Wo sind die Menschen, die Gäste und die Hotelangestellten? An den Außenwänden der großen Gebäude, die noch stehen, sieht man, wie hoch das Wasser gestiegen ist und wie es gewütet hat. Es war noch früh, als das Wasser kam. Einige wurden im Schlaf überrascht. Auf vielen Türschildern ist noch zu lesen: „Do not disturb.“

Die Aufräumarbeiten haben noch nicht begonnen. Türen und Fenster im Erdgeschoss sind vom Wasser einfach eingedrückt worden, die Möbel völlig zerstört. Nichts mehr steht an seinem Ort. Leichengeruch. An eine Mauer gedrückt liegt ein Berg aus Holz, Blech und Ziegeln. Dazwischen ein abgetrenntes Bein. Am Pool liegt ein toter Mann, neben ihm im Schlamm ein Handy, seine rechte Hand hält noch den Gürtel, an dem Auto- und Zimmerschlüssel hängen. Das Hotel hatte über 350 Gäste, die meisten davon aus Deutschland, und über 200 Angestellte. Ich höre leise die Wellen des Meeres, sonst nichts. Hierher muss zur Bergung mehr schweres Gerät gebracht werden. Und Spezialisten, die Tote finden und identifizieren können.

Die Krankenhäuser der Region sind überfordert aber wissen sich zu helfen

Wir fahren hoch zur Straße und zum nächstgelegenen Krankenhaus. Viele Krankentransportfahrzeuge mit Blaulicht blockieren sich gegenseitig am Eingang. Schon vor dem Krankenhaus auf der Wiese sind überall Ärzte und Helfer mit Notversorgungen zu Gange. Alle Betten sind belegt, überall auf den Gängen liegen Verletzte und Schwerverletzte. Überall sind schon freiwillige Helfer, die Verbände wechseln und neue Tücher bringen. Andere schleppen Kisten mit Trinkflaschen oder laden abgepackte Essensrationen ab. Eine Ärztin operiert eine große Wunde am Bein ohne Betäubung, zwei Helferinnen halten den Kopf der Patientin und reden ihr Mut zu. Gleich wird es vorbei sein.

Im vierten Stock kann sich ein Mann aus Berlin im Moment nicht an seinen Familiennamen erinnern. Ein Hubschrauber landet und nimmt zwei Schwerstverletzte mit nach Bangkok. Der Fußboden ist überall blutverschmiert. „Haben Sie meine Frau gesehen? Wir haben gerade gefrühstückt und hörten plötzlich einen fürchterlichen Lärm. Dann war das Wasser schon da.“ Viele erzählen mir von den Sekunden, bis das Wasser sie erfasste und sie realisierten, dass jede Flucht zu spät kommt.

Ein Verantwortlicher einer großen Firma sucht seine beiden Kinder Fabian und Sarah. Auch seine Frau wurde von ihm weggerissen. Er weiß aber schon, dass sie in einem anderen Krankenhaus liegt. Es wird oft gesagt, dass viele Kinder unter den Opfern sein werden. Suchlisten werden in der Eingangshalle ausgehängt. Bilder von vermissten Angehörigen hängen neben Fotografien von Toten. Sie sollen erkannt und dann identifiziert werden. In den anderen Krankenhäusern der Region sieht es genauso aus.

Erst am dritten Tag normalisiert sich die Situation etwas. Schwerkranke werden in Hospitäler nach Phuket oder Bangkok gefahren oder mit Hubschraubern ausgeflogen. Überall werden Telefone aufgestellt, die kostenlos benutzt werden können. Aber die Netze sind hoffnungslos überlastet. Die öffentliche Stromversorgung ist zusammengebrochen, Handyverbindungen sind kaum möglich oder werden nach drei Minuten unterbrochen. „Ist mein Freund jetzt im Himmel?“ fragt mich unvermittelt ein schwerverletztes Mädchen aus München. Obwohl sie Pfarrerstochter ist, hätte sie sich nur noch wenig mit Religion beschäftigt. Ihr Freund wäre kein Christ gewesen. Ich sage, dass Jesus den Ausdruck „Reich Gottes“ als Wort für „Himmel“ gebraucht hätte, und dass das ja kein konkreter Ort sei. „Wo Liebe ist und Güte und menschliche Menschen, da ist Gottes Geist gegenwärtig, da ist der Himmel auf Erden.“ Das verstünde sie gut, denn sie waren ja wie im siebten Himmel. Und sie fügte hinzu: „Ich werde weiter darüber nachdenken. So hat mir das noch niemand gesagt.“

Auf dem Vorplatz des Tempels meine ich durch die Hölle zu gehen

Am Nachmittag fahren wir zum ersten Mal in einen der buddhistischen Tempel, in die die geborgenen Leichen gebracht und in langen Reihen nebeneinander abgelegt werden. Ihre Haut ist fast schwarz. Es ist kaum noch zu erkennen, ob es Thailänder oder Europäer sind. Wir erstarren vor Schreck: Der ganze Platz ist bereits voller Leichen, und ständig werden weitere in Fahrzeugen und Lastwagen hergefahren. Mehrere hundert Särge sind am Rande bereitgestellt. Menschen kommen hierher auf der Suche nach vermissten Familienangehörigen oder Freunden. Diesen Weg sollte niemand allein gehen müssen. Ein Mann mittleren Alters öffnet einige Tücher und Plastikplanen, in denen Leichen eingewickelt sind. Er merkt, wie aussichtslos das ist. Selbst wenn er vor seiner Freundin stünde, würde er sie kaum erkennen können. Das Thermometer zeigt 34 Grad an, die Körper sind aufgequollen und der Geruch ist unerträglich.

Inzwischen zähle ich über 700 Leichen auf dem Tempelgelände. Allein an diesem Ort sind mehr als 1000 Särge bereitgestellt. Erschreckend viele werden in den nächsten Tagen hinzukommen. Forensische Teams aus ganz Thailand und mehreren anderen Ländern arbeiten unermüdlich, um Gewebeproben und Haare zu entnehmen, damit später die Toten identifiziert werden können. Aus Angst vor Seuchen werden jetzt Vorkehrungen getroffen. Jeder der noch auf den Platz will, muss Gummistiefel tragen und wird anschließend desinfiziert.

Ich spreche Menschen an, die zu den Toten gehen wollen und frage, ob sie die Kraft haben, das zu ertragen, was sie gleich sehen werden. Es kommen die ersten Angehörigen aus Deutschland, um sich selbständig auf die Suche nach ihren Vermissten zu machen. Ich wünschte mir, man könnte an jeden Eingang der Tempel Psychologen und Seelsorger stellen, die die Hilfesuchenden begleiten auf diesem Weg. Durch dieses Tal des Todes darf niemand allein gehen.

Operiert wird noch bis kurz vor Abflug

Am Donnerstag sind wir auf dem Flughafen in Phuket. Eine Abfertigungshalle wurde als Lazarett eingerichtet und gleichzeitig zum Zentrum der Krisenstäbe umfunktioniert. Die Organisation der Botschaft und der einzelnen Vertretungen untereinander wird immer besser. Es wird schnell und unbürokratisch geholfen. Kurz vor dem Abflug wird ein Junge noch operiert, andere erhalten einen neuen Verband. Vor der Halle wird Wasser in Tonnen angeliefert. Essensportionen stehen bereit, ebenso Obst und auch Medikamente und Verbandsmaterial aller Art. Es kann wieder kostenlos in alle Welt telefoniert werden und sogar ein Internet-Platz steht zur Verfügung.

Im Flugzeug sind meine Frau und ich zusammen mit Mitarbeitern der Botschaft, um die aufgenommenen Patienten und Schwerverletzten bis kurz vor Abflug zu begleiten. Eine Konfirmandin aus der Nähe von Hamburg erzählt mir erst ihre Geschichte des Überlebens und dann auch ein wenig von ihrem Konfirmandenunterricht, nachdem ich sagte, dass wir in Bangkok im kommenden Mai Konfirmation feiern würden. Sie wären eine große Gruppe,
aber der Unterricht wäre nicht so spannend. „Ich würde lieber mehr Filme sehen und nicht so viele Blätter ausfüllen. Aber jetzt wird sowieso alles ganz anders. Was ich hier erlebt habe – also, ich werde noch viel mehr nach Gott fragen.“ Als ich wieder an ihrer inzwischen fest verankerten Liege vorbeikomme, schläft sie fest. Kurz nach drei hebt die Maschine ab. Wir wünschen den Patienten und dem Pflegepersonal Gottes Begleitung auf dem Weg.

Nach der lebensvernichtenden Flutwelle kam eine Welle der Hilfsbereitschaft und der Menschenfreundlichkeit, die uns unglaublich beflügelte und Kraft gab. So hätten wir das nicht erwartet und sind beschämt darüber. Busse über Busse mit Hilfskräften aus dem ganzen Land kommen an. Schweres Räumgerät auf Großtransportern bilden auf der Straße nach Süden lange Staus. Dazwischen Krankentransporte mit Blaulicht. In und vor den Tempeln und Krankenhäusern haben sich Studenten kleine Zettel angeheftet, die sie als Übersetzer ausweisen. Ich selbst werde mehrmals gefragt, ob ich Hilfe bräuchte. Und wer möchte diese freundliche Frage in diesen Stunden der größten Not verneinen?

Anders als vor 10 Jahren in Ruanda müssen wir hier keine Täter suchen

Ich wurde mehrfach von Freunden gefragt, ob unsere Erfahrungen in Ruanda vor 10 Jahren in der Zeit des Krieges und des Völkermordes an den Tutsi eine Vorbereitung für die Schrecken hier in Thailand waren. Ich verneinte. Vielleicht kann man sich auf bessere Logistik und technische Probleme vorbereiten. Nein, hier traf uns alles wieder ganz und gar unvorbereitet. Zwei große Unterschiede gibt es aber: Zum einen ermutigen und motivieren uns die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft von so vielen Menschen. Das gibt uns Kraft und Hoffnung für das jetzt Notwendige und auch für zukünftige Aufgaben. Zum anderen muss dieses Mal nicht die Frage nach Tätern gestellt werden. Hier gibt es nur Opfer. Auch wenn die Not groß ist, macht dies die Arbeit doch leichter. In einem kurzen Fernsehbeitrag sah ich einen Mann zwischen zwei Bäumen, der die „schöne Welle“ filmte, bis ihm das Wasser in die Badeschuhe lief. Bis zuletzt erkannte er die Gefahr nicht. Er blieb ahnungslos und wurde von der Welle mitgerissen. In Ruanda war ich wie gelähmt angesichts der Unmenschlichkeit des Menschen. Hier bin ich voller Zuversicht, weil ich spüre, dass ich von einer großen Welle der gegenseitigen Achtung und Zuneigung getragen werde.

Genau vor einem Jahr, am 26. Dezember 2003, saßen meine Frau und ich im Flugzeug nach Bangkok, wo unser Dienst begann. Erst nach der Ankunft hörten wir von dem schweren Erdbeben in der iranischen Stadt Bam, bei dem über 30.000 Menschen getötet wurden. Letzte Nacht erhielt ich den Anruf meines deutschen Pfarrerkollegen aus Teheran, dessen Gemeinde uns hier in Thailand unterstützen möchte. Sie hätten in den Gottesdiensten am Jahreswechsel eine große Kollekte gesammelt, die sie zur Linderung der größten Not zur Verfügung stellen wollen. Mir wurde klar: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ (Hölderlin).

Bangkok, am 2. Tag des Neuen Jahres 2005,
Pfarrer Burkhard Bartel

Evangelische Gemeinde deutscher Sprache in Thailand
German Speaking Protestant Congregation in Thailand
343/1 Sukhumvit Road Soi 31
Bangkok 10110, Thailand
 

Homepage: http://www.die-bruecke.net/

Unsere Gemeinde hilft Menschen in dem zerstörten Gebiet direkt und unbürokratisch.
Wer die Evangelische Gemeinde deutscher Sprache in Thailand darin finanziell unterstützen möchte, kann unter dem Stichwort Flutwelle eine Spende überweisen:

 Deutsche Bank Hamburg, Konto 1158021, BLZ 200 700 24 
oder Deutsche Bank Bangkok, Account.No: 0003384001

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