Stichtagsverschiebung - Tabu für Christen?

Evangelische Theologen beziehen Position

08. Februar 2008


In der kommenden Woche berät der Deutsche Bundestag über eine mögliche Änderung des Stammzellgesetzes. Der Präsident des EKD-Kirchenamtes, Hermann Barth, hat in einer Kolumne für das monatlich erscheinende Life-Sciences-Magazin „Transkript“ dargelegt, dass Christen in der Diskussion um die Verschiebung des Stichtages mit guten Gründen unterschiedlicher Meinung sein können:

„Wenn ich von Abgeordneten, die ihr Urteil an den Maßstäben der Bibel, des christlichen Glaubens und der evangelischen Ethik prüfen wollen, um Rat gefragt werde - was antworte ich ihnen? Erstens: Sie sollen auf die Stimme ihres Gewissens hören. Wenn ihr Gewissen zur Freigabe der Forschung an humanen embryonalen Stammzellen nein sagt, ist die Stichtagsverschiebung für sie tabu. Denn es tut uns nicht gut, wider unser Gewissen zu handeln. Zweitens: Ich sehe keine Gründe, denjenigen Christen, die die Stammzellforschung bejahen oder sie selbst betreiben, in jedem Fall einen unüberwindlichen Widerspruch zu biblisch-christlichen Maßstäben vorzuhalten. In die ethische Beurteilung der Forschung an embryonalen Stammzellen fließen Gesichtspunkte ein, die mit der - strittig bleibenden - Deutung natürlicher Sachverhalte und mit Abwägungsfragen zu tun haben. Es gibt viele Entscheidungen - und die zum Stichtag gehören dazu -, bei denen Christen mit guten oder immerhin respektablen Gründen unterschiedlicher Auffassung sein können. Drittens: Das Stammzellgesetz von 2002 ist durch einen Kompromiss möglich geworden. Ein gelungener Kompromiss hat nicht nur eine politische Qualität, indem er einen Ausgleich zwischen unvereinbaren Positionen herstellt und Rechtsfrieden schafft. Er hat auch eine ethische Qualität, indem er den im Streit liegenden Positionen die Zustimmung zu einer "zweitbesten" Lösung und damit eine Selbstrelativierung, das heißt: Demut, abverlangt. Viertens: An der Vorbereitung und Verabschiedung des Kompromisses von 2002 waren im Bundestag viele Christen beteiligt. Keine kirchliche Autorität kann Recht und Befähigung, darüber zu urteilen, was in diesem Fall christlich vertretbar ist, für sich beanspruchen und dies zugleich anderen absprechen. Fünftens: Eine Stichtagsverschiebung ist, solange sie nicht automatisch erfolgt, sondern vom Parlament verantwortlich geprüft wird, ethisch an denselben Maßstäben zu messen wie die Stichtagsregelung von 2002. Wenn sie nötig ist, die inzwischen eingetretene Verschlechterung der Forschungsbedingungen zu beseitigen, macht sie den Kompromiss von 2002 nicht wertlos, im Gegenteil: Sie gibt ihm den Wert wieder zurück, den er 2002 hatte - nämlich beiden Seiten, den Advokaten des konsequenten Lebensschutzes und den Advokaten der Forschungsfreiheit, etwas zuzumuten und etwas zuzugestehen.“

Der Vorsitzende des Rates der EKD, Bischof Wolfgang Huber, hat in den vergangenen Wochen immer wieder betont, dass der Kompromiss von 2002 dazu beigetragen habe, den strengen Maßstab des deutschen Embryonenschutzgesetzes aufrecht zu erhalten. Er sei gegen die Aufweichung des Lebensschutzes und strikt gegen die Abschaffung des Stichtages. Zugleich fürchte er aber, dass eine solche komplette Freigabe wahrscheinlicher werde, wenn stets nur auf die Unzulässigkeit von Stammzellforschung verwiesen werde. „Ein Embryo hat von Anfang an menschliche Würde“, wird der Ratsvorsitzende nicht müde zu wiederholen. Damit begründe sich, dass kein Embryo zu Forschungszwecken hergestellt und dann getötet werden dürfe. Bei künstlichen Befruchtungen entstehen allerdings überzählige Embryonen. Es müsse doch gefragt werden, ob aus diesen Embryonen, die ohnehin irgendwann absterben, Stammzellen gewonnen werden dürfen, um mit ihnen Heilungsmöglichkeiten zu erforschen. Auf diese Frage, so der Ratsvorsitzende könne es unterschiedliche Haltungen geben, es dürfen nicht die eine Position als christlich, die andere als unchristlich dargestellt werden.“

Interview des EKD-Ratsvorsitzenden zur Stammzelldebatte im "Deutschen Ärzteblatt" vom 12. Februar

Interview des EKD-Ratsvorsitzenden zum Thema "Stammzellen" in der Süddeutschen Zeitung vom 11. Februar 2008

Pro & Contra aus "Transkript", Ausgabe 1/2 2008

Beschluss der EKD-Synode zum Thema "Stammzellen" vom 7. November 2007