Stichtagsverschiebung – Tabu für Christen?

Pro & Contra - Hermann Barth und Gebhardt Fürst in "Transkript" - Ausgabe 1/2 2008

08. Februar 2008


Die vom CDU-Parteitag mitgetragene Entscheidung der Forschungsministerin Annette Schavan, eine einmalige Verschiebung des Stichtages für den Import embryonaler Stammzellen zu unterstützen, spaltet selbst die Kirchen: Ist der Vorstoß mit christlichen Positionen vereinbar?

Pro

Prof. Dr. Gebhardt Fürst, Bischof der Diözese Rottenburg-Stuttgart

Eine Verschiebung des Stichtags im Stammzellgesetz würde den Embryonenschutz weiter aushöhlen. Wer embryonale Stammzellen gewinnt, nimmt die Tötung embryonaler Menschen billigend in Kauf, obwohl es andere vielversprechende Forschungswege, vor allem die Forschung mit adulten Stammzellen, gibt. Die katholische Kirche, und ich weise nachdrücklich darauf hin, dass sie sich hier in einem breiten gesellschaftlichen Konsens befindet, lehnt jede Forschung mit embryonalen Stammzellen ab. Ich warne vor gravierenden Folgen einer weiteren Aushöhlung des Embryonenschutzes aufgrund vermeintlicher Heilszusagen und wissenschaftlicher Machbarkeitsphantasien: Menschliches Leben droht immer mehr zur Ware und zum Objekt merkantiler Interessen zu verkommen. Die Menschenwürde gilt vom Anfang des Lebens bis zu seinem Ende und muss Maßstab sein für alle Bereiche des Forschens. In keinem Fall darf die gute Absicht des Heilens über die Menschenwürde gestellt werden. Genau dies aber geschieht in der Forschung an embryonalen Stammzellen. Stattdessen muss die Forschung an adulten Stammzellen vorangetrieben werden. Aus diesem Forschungssektor sind in den letzten Jahren bereits zahlreiche Therapien gegen Krankheiten gerade in Deutschland entwickelt worden. Darin zeigt sich, dass ein Verzicht auf die Forschung mit embryonalen Stammzellen keine Gefährdung für den Wirtschaftsstandort Deutschland bedeutet. Der Verzicht in unserem Land hat vielmehr dazu geführt, dass Deutschland in der Forschung mit adulten Stammzellen weltweit einen Spitzenplatz einnimmt. Der Nutzen der embryonalen Stammzellenforschung ist dagegen entgegen früherer Versprechungen überhaupt nicht erkennbar. Viele Menschen haben mangels Detailwissen Probleme, sich gegen die Forschung an embryonalen Stammzellen zu positionieren. Ich sehe eine wichtige Aufgabe für mich und die gesamte Kirche, in der Verantwortung vor dem Menschen und vor Gott, Orientierung in diesen Fragen zu geben – gegen richtungslosen Pragmatismus. Dazu gehört hier konkret, sich deutlich gegen eine Verschiebung des Stichtags im Stammzellgesetz auszusprechen.

Kontra

Dr. Hermann Barth, Präsident des Kirchenamtes der EKD

Wenn ich von Abgeordneten, die ihr Urteil an den Maßstäben der Bibel, des christlichen Glaubens und der evangelischen Ethik prüfen wollen, um Rat gefragt werde – was antworte ich ihnen? Erstens: Sie sollen auf die Stimme ihres Gewissens hören. Wenn ihr Gewissen zur Freigabe der Forschung an humanen embryonalen Stammzellen nein sagt, ist die Stichtagsverschiebung für sie tabu. Denn es tut uns nicht gut, wider unser Gewissen zu handeln. Zweitens: Ich sehe keine Gründe, denjenigen Christen, die die Stammzellforschung bejahen oder sie selbst betreiben, in jedem Fall einen unüberwindlichen Widerspruch zu biblischchristlichen Maßstäben vorzuhalten. In die ethische Beurteilung der Forschung an embryonalen Stammzellen fließen Gesichtspunkte ein, die mit der – strittig bleibenden – Deutung natürlicher Sachverhalte und mit Abwägungsfragen zu tun haben. Es gibt viele Entscheidungen – und die zum Stichtag gehören dazu –, bei denen Christen mit guten oder immerhin respektablen Gründen unterschiedlicher Auffassung sein können. Drittens: Das Stammzellgesetz von 2002 ist durch einen Kompromiss möglich geworden. Ein gelungener Kompromiss hat nicht nur eine politische Qualität, indem er einen Ausgleich zwischen unvereinbaren Positionen herstellt und Rechtsfrieden schafft. Er hat auch eine ethische Qualität, indem er den im Streit liegenden Positionen die Zustimmung zu einer „zweitbesten“ Lösung und damit eine Selbstrelativierung – das heißt: Demut – abverlangt. Viertens: Am Kompromiss von 2002 waren im Bundestag viele Christen beteiligt. Keine kirchliche Autorität kann Recht und Befähigung, darüber zu urteilen, was in diesem Fall christlich vertretbar ist, für sich beanspruchen und dies zugleich anderen absprechen. Fünftens: Eine Stichtagsverschiebung ist, solange sie vom Parlament verantwortlich geprüft wird, ethisch an denselben Maßstäben zu messen wie die Stichtagsregelung von 2002. Wenn sie nötig ist, die inzwischen eingetretene Verschlechterung der Forschungsbedingungen zu beseitigen, macht sie den Kompromiss von 2002 nicht wertlos – im Gegenteil: Sie gibt ihm den Wert wieder zurück, den er 2002 hatte: beiden Seiten – den Advokaten des konsequenten Lebensschutzes und den Advokaten der Forschungsfreiheit – etwas zuzumuten und etwas zuzugestehen.

Quelle: Transkript