6. Tagung der 10. Synode der EKD

Dresden, 04. - 07. November 2007

Referat zum Schwerpunktthema "evangelisch Kirche sein"

Professor Dr. Eberhard Hauschildt

05. November 2007

Organisation der Freiheit
Evangelisch Kirche sein verändert sich
Prof. Dr. Eberhard Hauschildt, Universität Bonn


 
12 Merksätze

Kirche sein heißt ...
 
 
- Kirche sein aus der Bewegung durch Gott (1).
- Institution sein (2).

Evangelisch Kirche sein heißt ...
- Institution sein ja, aber Institution der Freiheit (3).
- Organisation der Freiheit sein (4).
- ein Hybrid aus Institution und Organisation bilden (5).

Evangelische Kirche als Organisation der Freiheit ...
- organisiert die maßgebliche Beteiligung der Mitglieder an den grundlegenden Entscheidungsprozessen (6).
- ist gekennzeichnet durch theologische Auskunftsfähigkeit über den Horizont ihrer Entscheidungen (7).
- lässt Gottesbegegnung und Lebenserneuerung aufeinander verweisen (8).
- trifft als informierte Organisation theologisch kontrollierte Entscheidungen, damit sie für die Situation passen (9).
- ist gestaltete freie Gemeinschaft von Organisationen (10).
- klärt Beteiligungsrechte und Entscheidungsbefugnisse und bringt sie in Balance (11).

Zusatz: Wir brauchen durch Zahlen informierte Theologie und theologisch gewichtete Zahlen (12).



1. Kirche als Bewegung, Institution und Organisation (1)
„Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ (Mt 18,20) Das ist die Verheißung, aus der Kirche entsteht. Begegnung mit dem Auferstanden. Eine Begegnung mit dem Auferstandenen wie auf dem Weg zwischen Jerusalem und Emmaus. Ein Weg, wie Lebenswege so sind, einschließlich der Enttäuschungen und Bedrohung von Zukunft. Da kommt es, unbemerkt und ungewollt, zur Begegnung mit Gott; denn der Auferstandene gesellt sich dazu. Und da entsteht Freiheit, die Befreiung, die nur Gott geben kann, die Freiheit von Sünde, Tod und Teufel, die Freiheit im Lobpreis, die Freiheit zur Gerechtigkeit und zur Nächstenliebe auf Hoffnung hin.

Am Anfang ereignet sich Bewegung. Heraus aus Nazareth nach Judäa und Samaria, nach Antiochien, Europa und Afrika. Eine Bewegung hin zu den Frauen und Kindern, den Blinden und Lahmen, den Heiden. Diesen Weg nimmt das Evangelium. Darum ist evangelisch sein zuerst Bewegung. Die Begegnung mit Gott, die Bewegung aus Gott - allein darum ist Kirche da. Mein 1. Merksatz lautet deshalb: Kirche sein heißt Kirche sein aus der Bewegung durch Gott.

Und dann kommt ein zweites hinzu. Schon auf dem Weg nach Emmaus heißt es: „Bleibe bei uns, denn es will Abend werden.“ (Lk 24,29) Bewegung will andauern. Der Moment soll seine Prägekraft entfalten. Und so hat der Auferstandene auch den Glaubenden verheißen: „Ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende.“ (Mt 28,20)

Aber wenn Bewegung andauert, verändert sie sich. Die soziologische Beobachtung, dass charismatische Anfänge in Beständigkeit übergehen, gilt auch für das Christentum. Und dieser Vorgang wiederholt sich in seiner Geschichte immer wieder: von den Wanderaposteln zur Ortsgemeinde, von Franziskus zu den Franziskanern, von den 95 Thesen an der Wittenberger Schlosskirche zum Landesherrlichen Kirchenregiment, vom Verein für Mission zur Evangelischen Allianz. Aus der Bewegung wird Institution: Weitergabe des Evangeliums in den Familien, Fixierung von Tradition, rechter Lehre und Ritualen, Ämtern und Hierarchien.(2) Das Neue Testament selbst führt uns diesen Wandel vor – von den Gemeinden, an die Paulus seine Briefe schreibt, zu den Gemeinden des Titusbriefs und der Timotheusbriefe. Das Christentum in seiner Spur bejaht diesen Wandel. Der Weg zu den vielen wird zum Weg von der Untergrundbewegung zur flächendeckenden Staatskirche, einsozialisierte selbstverständliche Zugehörigkeit zur Kirche.

Die Gestalt der Volkskirche hat dann später dieses Erbe fortgeführt. Mein 2. Merksatz lautet darum: Kirche sein heißt Institution sein.

Der Weg in die Institution ist freilich damit auch ein Weg, der in die Differenz und die Distanz führt zu den Anfängen. Wo bleibt die Bewegung aus der Gottesbegegnung? Soweit habe ich über das Kirche sein allgemein geredet. Das Schwerpunkthema dieser Synode lautet „Evangelisch Kirche sein“ auf. Evangelisch Kirche sein verdankt sich einer Bewegung, die sich den Selbstverständlichkeiten institutionalisierter Kirche entgegenstellte. So erstaunt es denn auch nicht, dass eine der markanten reformatorischen Umgestaltungen im Verständnis von Kirche selbst liegt. Die Reformation fragte kritisch: Wie kann die Kirche ihren Anfängen treu bleiben? Und sie antwortete: Nur so, in dem sie sich ausrichtet an der Begegnung mit Gott, daran dass „das Wort im Schwange geht“, die „viva vox evangelii“, die lebendige Stimme des Wortes erklingt (M. Luther). Dabei war der Aufbruch unserer evangelischen Vorfahren von Anfang an realistisch genug, und das heißt: bibelfest genug, um sich darüber im Klaren zu sein: Institutionalisierung ist unausweichlich. Sie hat ihr Gutes, weil und sofern sie unterstützt, dass das Evangelium auf Dauer und für die vielen erklingt.

Darum stellte sich für das reformatorische Verständnis von Evangelisch sein sogleich die Frage, wie denn das geht: Evangelisch Kirche sein. Wie sieht eine der Bewegung der Freiheit aus dem Evangelium entsprechende Institution der Freiheit aus? Die Antwort der Reformation: Die Institutionalisierung hat ihr Recht, soweit sie der Begegnung mit Gott dient. Kirche ist Versammlung der Heiligen zu Wort und Sakrament; mit geordneter Lehre und geordnetem Amt, aber das ist dann auch genug zur Definition von Kirche (Confessio Augustana 1530, Art. 7) Darüber hinausgehende Institutionalisierungen der Kirche kann und soll es zwar ruhig geben. Aber kirchliches Recht und kirchliche Hierarchie und kirchliche Traditionsbildungen haben keine Würde in sich selbst. Sie werden entmystifiziert als menschliche Ordnungen (vgl. CA Art. 7, 15 u. 28) und als Interpretationen, die zu prüfen sind, in welchem Maße sie dem Evangelium in der Situation dienen können.

Evangelisch Kirche sein heißt darum, die Institution der Kirche als Institution der Freiheit zu sehen.(3) Eine Institution, in der die Freiheit von den Ordnungen und Kirchentraditionen mitgedacht ist und in der eine Freiheit zur beständigen Reformation der Kirche besteht. Eine Institution, in der die spannungsvolle Dynamik zwischen Bewegung und Institutionalisierung gewollt ist. Eine Institution, in der Institutionskritik möglich, ja erwünscht ist.(4)

Diese Kirche erlaubt Freiheit auch zur Distanzierung von ihr selbst, denn die Begegnung mit Gott lässt sich nicht herbeiordnen. Diese Kirche beschränkt sich auf Rahmenregelungen in Sachen Aufsicht zur Verhinderung von Auswüchsen und sieht für dogmatische Positionen und ethische Urteile bewusst keine Durchgriffsmöglichkeiten der geistlichen Hierarchie vor. Wahrheit wird nicht durchs Kirchenrecht bestimmt; sie kommt zutage in der Interpretation der Schrift und den freien Diskurs darüber. Mein 3. Merksatz lautet: Evangelisch Kirche sein heißt: Institution sein ja, aber Institution der Freiheit.

Es gibt darum ein spezifisch evangelisches Leiden an der Kirche. In einer anderen Kirche als der Evangelischen mag sich das Leiden an der Durchsetzungsmacht der Kirchenhierarchie  und der Unveränderlichkeit der Traditionen abarbeiten. Das sind nicht die Probleme der Protestanten. Sie leiden stattdessen an der Institution.(5)  Im Bewusstsein, dass einzig die Begegnung mit Gott das Kriterium ist, leiden die Protestanten daran, dass sie in ihrer Kirche statt Bewegung zumeist auf Institution treffen: auf Kindertaufe, auf Kasualien- und Weihnachtschristentum, auf stabile Halbdistanz. Sie wünschen sich eine Kirche in Bewegung, wie sie einmal war, in den Anfängen. Dabei gerät dann freilich aus dem Blick, dass schon immer diese Bewegung auf dem Boden und durch die Unterstützung der Institutionen der Sesshaften lebte:(6) Jesus kehrte ein in das Haus der Schwiegermutter des Petrus, hinter dem Wirken des Paulus stehen die reichen Witwen, hinter Luther der Kurfürst.

Die Sozialgestalt der Kirche ist nicht sakrosankt (CA), aber sie ist ebensowenig gleichgültig: Auch mit ihrer Ordnung bezeugt die Kirche das Evangelium (vgl. Barmen III).(7)  Eine Schwäche der Sozialgestalt der Institution liegt darin, wie sie mit Wandel umgeht. Institutionen entstehen unmerklich, sie wandeln sich auch so langsam, dass es unmerklich ist, und ebenso lautlos vergehen sie. Der demografische Wandel (der resultiert im Jahr 2030 nach EKD-Prognose in 1/3 weniger Kirchenmitgliedern und – wenn es bei den bisherigen Kirchensteuerregelungen bleibt – 42% weniger Kirchensteuerzahler) stellt eine Herausforderung da. Es ist vielleicht die größte Herausforderung für die Kirche als Institution seit derjenigen durch die rasante Industrialisierung und Verstädterung im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Institutionen reagieren schwerfällig. Die Gefahr, den Wandel zu verschlafen ist für Institutionen groß.

Was tat sich angesichts der Herausforderung im 19. Jahrhundert? Die Christinnen und Christen damals begannen Vereine zu gründen, Vereine für Mission und Diakonie. Die erneute Bewegung nach unten zu den sozial Deklassierten und nach außen(8) zu Nicht-Christen in Übersee und zu der kirchenentfremdeten Arbeiterklasse wurde umgesetzt und dann auch verstetigt in einer neuen Sozialform. Aus den Anfängen bürgerlicher Vereine und Assoziationen entwickelten sich nämlich Organisationen.

Organisationen sind die diejenige Sozialform, die für unsere Gesellschaft die maßgebliche wurde. Alle Organisationstypen im modernen Sinne entstanden im 19. Jahrhundert und entwickelten sich zum entscheidenden Träger der ausdifferenzierten modernen Gesellschaft. Die Institution des Königtums wurde abgelöst durch die von den Organisationen der Parteien getragene Demokratie, die Wirtschaftsordnung der Zünfte und Selbstproduzentenhaushalte von der Marktkonkurrenz der Wirtschaftsunternehmen. Wir leben in einer Organisationsgesellschaft.(9)

Was sind Organisationen im modernen Sinne genauer? Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie 1. ein klares Programm formulieren, sich 2. ein eindeutiges Handlungsziel geben, und zur Verfolgung dieses Ziels braucht es dann 3. materielle und personelle Ressourcen; deren Findung und möglichst effektiver Einsatz wird zu einer vordinglichen Aufgabe zur Erreichung des Ziels. Wie das für das Christentum aussieht, kann man bereits an den Initiativen von Mission und Diakonie des 19. Jahrhunderts studieren. Sie verfolgten ein ganz spezifisches und klar benanntes Ziel (christliche Krankenhauspflege bereitstellen, das Christentum in die Kolonien bringen, den Epileptikern helfen usw.). Darauf hin sind Spendenaufrufe wie Mitgliederwerbung zugeschnitten; schnelle Entscheidungsfindung und eindeutige Steuerungsmöglichkeiten werden dazu gebraucht. Darum gehören zu Organisationen dann auch klare und schlanke Leitungsstrukturen. Und der moderne Sozialstaat verlangt inzwischen noch einmal einen um viele Stufen erhöhten Organisationsgrad von den Einrichtungen der Diakonie als Akteure auf dem Sozialmarkt.

Inzwischen hat dieser Schub an Organisationslogik auch die Bereiche der staatlichen und staatsnahen Einrichtungen erfasst, den Bereich der Bildung, der Sozialbürokratien. Eines der wichtigen Versprechen lautet dabei: Mithilfe der Organisationslogik lassen sich die Ressourcen besser nutzen. Mission und Diakonie haben es vorgemacht. Der Staat zieht nach. Und in dieser Situation wächst die Einsicht. Evangelisch Kirche sein ist nicht nur Institution, Evangelisch Kirche sein ist in diesem präzisen Sinne auch Organisation.

Die Institutionsgestalt der Kirche ist zwar viel stabiler als viele meinen, die an der Differenz von Institution und Bewegung leiden. Aber sie flacht sich ab: Die Gesellschaft ist pluraler geworden, ein christliches Umfeld und schon ganz ein evangelisches als soziale Selbstverständlichkeit wird zumindest diffuser. Derzeit treten rund 0,5 % der Mitglieder jedes Jahr aus, rund 0,2 % kommen durch Eintritt, Wiedereintritt und Übertritt hinzu.(10) Ein Minus von 0,3% pro Jahr – auch das summiert sich auf Dauer. Die Zeiten, als die Kirchensteuern mit der allgemeinen Wirtschaftentwicklung von allein sprudelten und man in der Kirche über Geld nicht reden musste, weil man es hatte, sind schon allein aus demografischen Gründen vorbei.

Der Motor der Rekrutierung an Personen und Finanzen nach dem Muster der Kirche als Institution ist ins Stottern geraten. Darum jetzt auch in der Kirche der Blick auf die Organisationslogik. Und spätestens mit dem Impulspapier nun auch auf der Ebene der EKD.

Denn das ist es ja, was das Impulspapier von früheren Reform- und Leitbildüberlegungen unterscheidet: dass hier Ziele und Tätigkeitsfelder möglichst genau benannt sind und nun Zahlen auftauchen und an einen geplanten Prozess der Veränderung gedacht wird. Das bedeutet in der Tat einen Mentalitätswandel. Und genau diese Veränderung von der Institution zur Organisation ist es auch, die Bedenken hervorgerufen hat. Geht denn das? Geschieht hier Ausverkauf an das Denken und die Sprache der Ökonomie? Das wäre doch nicht Kirche, wenn sie jetzt zum Unternehmen mutierte. Selbst die Organisationsgestalt von diakonischen Unternehmen und von Missionsorganisationen wird sich kaum einfach 1 zu 1 kopieren lassen. Wenn Kirche auch Organisation sein kann und soll, dann müsste jedenfalls evangelische Kirche sich als Organisation der Freiheit erweisen. Das ist mein 4. Merksatz, der nun die Herausforderung bezeichnet: Evangelisch Kirche sein heißt Organisation der Freiheit sein.

Was für ein Verständnis von Organisation bedeutet das dann? Und was hat das für Konsequenzen für die Kirche als Institution und Bewegung? Welche Aufgaben liegen in dieser Perspektive vor der Evangelischen Kirche in Deutschland? Welche Konsequenzen lassen sich aus dem Impulspapier „Kirche der Freiheit“ und aus den bisherigen Debatten über das Papier ziehen, vor allem auch aus denen auf dem Zukunftskongress in Wittenberg? Ich beginne mit einigen Beobachtungen und Einschätzungen der Diskussionslage, schließe daran Überlegungen dazu an, was Organisation der Freiheit grundsätzlich bedeuten kann, und ende mit einigen Hinweisen für den weiteren Verlauf des Reformprozesses.

2. Beobachtungen zum Reformprozess in der EKD
Mutig war das Impulspapier, von einer zwölfköpfigen Perspektivkommission erstellt und dann im Auftrag des Rates der EKD herausgegeben. Diese Provokation der Zahlen und der Ziele und der Nennung von Kernbereichen, Leuchtfeuer genannt, sorgte für Aufmerksamkeit in den Medien: Es bewegt sich was in der Evangelischen Kirche - so die öffentliche Wahrnehmung.

Andererseits war das Papier auch vorsichtig. Dass und in welchem Maße hier aus den Organisationserfahrungen der betriebswirtschaftlichen Praxis und Theorie gelernt wird und wo man von ihr abweicht, musste man eher zwischen den Zeilen herauslesen. Wie sich der avisierte Prozess der Reform zu Mustern der Prozessmanagements in modernen Betrieben verhält, blieb ungeklärt. Die Frage, inwieweit man hier von Organisationserfahrungen in anderen Non-Profit-Organisationen lernen kann, wurde im Impulspapier nicht aufgeworfen, geschweige denn diskutiert.

Die Debatte, die dann losbrach, vor Wittenberg und auf dem Wittenberger Zukunftskongress, kann ich nicht im einzelnen charakterisieren. Nur einige vielleicht auch subjektive Beobachtungen meinerseits.

Zunächst: Das Thema Kirchenreform durch Wandel zur Organisation ist damit – mit bis zu zehn Jahren Verzögerung gegenüber manchen Landeskirchen, Kirchenkreisen und Gemeinden(11) – auf der EKD-Ebene auf dem Tisch. Das ist mehr als ein Nachvollziehen, ein Sammeln und Sichten. Wenn die EKD sich diesen Prozess zu eigen macht, dann dreht das – wenn Sie so wollen – die „Beweislage“ um: Nach dieser öffentlichen Debatte muss derjenige, der angesichts der Lage keine einschneidenden Strukturreformen will, begründen, wie er denn anders sich seine Antwort auf die Lage vorstellt. Ignorieren und ohne nachvollziehbare Gründe allein möglichst alles beim Alten lassen, das wird viel weniger möglich sein als vor dem Impulspapier und vor dem Zukunftskongress. Nicht dass es nicht doch passieren könnte. Aber dann wird man nicht mehr sagen können, man habe ja nicht ahnen können, was auf die Kirche zukommen würde.

Sodann: Theologische Klärungen sind weiter nötig. Hier wurden vielfach noch Defizite des Impulspapiers gesehen.(12) Ein Mentalitätswechsel ist ein tiefgreifender Wechsel. Er lässt sich nicht einfach machen oder einfordern. Er entsteht, braucht Einsicht und ermutigende Erfahrungen. Der der EKD-Synode vorgelegte Kundgebungsentwurf arbeitet darum zu den theologischen Klärungen. Was bedeutet dieser Wandel theologisch? Ist er theologisch berechtigt, wo er doch auch das intensive Gefühl auslöst, die Kirche zu verlieren, wie sie war und wie sie einem vertraut und lieb ist?

Und weiter: Auffallend ist: In der Debatte sind inzwischen die provozierenden Zahlen weitgehend vom Tisch. Die zu der Anzahl der Landeskirchen, zu der prozentualen Aufteilung von Ortsgemeinden und anderen Gemeinden, zu dem Wachstum an Kirchgangsfrequenz und Trauquote. Dass sie vom Tisch sind, hat mehrere Gründe. Sie sind auch in der EKD nicht konsensfähig. Ihre Erreichung liegt zum größten Teil nicht im Handlungsbereich der Ebene der EKD, sondern auf anderen Ebenen der evangelischen Kirche. Sie erschienen selbst bei einem Vorlauf von 23 Jahren zum Teil nicht sehr realistisch. Und schließlich: Ihr Status zwischen Vision und betrieblicher Kennzahl war nicht klar.

Es zeigt sich hier mit aller Deutlichkeit: Eine durchschlagende Organisationsreform einfach von oben her ist in der Kirche als Organisation der Freiheit nicht möglich und auch nicht wünschenswert. Aber was ist dann wünschenswert und sollte ermöglicht werden?

Es bedarf der Prozess der Reform selbst weiterer Klärungen. Was ist wessen Job auf welcher Ebene der Kirche? Diese Frage muss geklärt werden, wenn in der Kirche nach Organisationslogik gehandelt werden soll. Organisation verlangt Leitung. Aber die Rechtsstrukturen der Kirche bieten zur Zeit vor allem komplexe Aufsichtsrechte, oft haben mehrer Organe gemeinsam die Aufsicht inne. Aber welches Organ in welcher Hinsicht leitet, das bleibt diffus. Es gibt, was Regelungen betrifft, auf so gut wie allen Ebenen der Kirche ein Leitungsvakuum. Das bedeutet nicht, dass nicht Leitung ausgeübt wird. Aber es sind – abgesehen vom kleinsten gemeinsamen Nenner – eher die Zufälle starker Persönlichkeiten und die Absprachen in informellen Zirkeln, in denen Leitung realisiert wird. Aber wer wen beauftragen kann und wer wem berichten muss und wer wann auch tatsächlich entscheiden darf, das ist für die meisten Fragen des Organisationshandelns erstaunlich wenig geregelt. Welche Zeiträume sind für Entscheidungsfindungsprozesse angemessen? Wofür ist Einmütigkeit nötig und wofür nicht?

Zurücknehmen der Zahlen, nachzuholende theologische Klärungen, Beschäftigung mit den eignen Leitungsstrukturen – eine Verlangsamung der Reformprozesses tritt offensichtlich ein. Auf den ersten Blick sieht das aus wie eine Schwächung der Reform. Und das wäre ja auch nicht ein erstes Mal, wenn es so laufen sollte, dass zunächst neue Bedenken und Hürden aufgerichtet werden, dann das Geld fehlt und zum Schluss ein Reformimpuls folgenlos bleibt. Andererseits: Es ist typisch für die Kirche (und Non-Profit-Organisationen überhaupt), dass ihre Organisationsreformen deutlich langsamer und weniger zentralistisch vonstatten gehen als bei Profitorganisationen. Das führt zu verspäteten Reformen; es bewahrt aber auch vor den Fehlern durch Überhastung und erbringt Zeit zum Lernen aus Fehlern. Wir sollten uns die theologischen Klärungen und die Klärungen im Leitungshandeln der Leitungsorgane der EKD leisten. Denn ohne Klärung der Ziele und ohne geklärte Zuständigkeiten für Entscheidungen sind in Freiheit gewollte Organisationsreformen nicht zu machen. Und genau diese Klärungen stehen meines Erachtens zur Zeit an.  Ich will dazu meinen Beitrag leisten, indem ich versuche der Frage vertieft nachzugehen, was denn Organisation der Freiheit bedeuten kann.

3. Auf welcher Ebene liegt der Schwerpunkt der Kirche als Organisation der Freiheit?
Wollen wir Organisation werden? Wer die Frage positiv beantwortet, der muss Auskunft geben können, in welchem Sinne denn wir Organisation werden wollen.
Es gibt manche Stimmen und Entwicklungen, die setzen ganz und einzig auf die Organisationswerdung der Gemeinden vor Ort. Bei knapper werdenden Finanzen ist auch die Versuchung für die Gemeindevertreter in den Synoden groß, das Übergemeindliche wegzusparen. Die einzelnen Gemeinden bestimmen dann über sich selbst, bekommen Finanzhoheit und konkurrieren direkt miteinander. So wird aus dem Evangelisch Kirche sein in Deutschland etwas anderes – ein Evangelisch sein nach dem kongregationalen Modell. Die Verhältnisse werden damit ähnlicher denen in den USA. Die besonderen Stärken der volkskirchlichen Tradition mit den Strukturen von Flächen-Landeskirchen und der EKD als kirchlicher Heimat fast aller Evangelischen in Deutschland werden damit aufs Spiel gesetzt; die starken Gemeinden (die Gemeinden der Gebildeten, der Engagierten, die blühenden Vorortgemeinden der Neubaugebiete) werden tendenziell sich gegenüber den Gemeinden der Schwachen durchsetzen. Die Milieus der Starken in der Gesellschaft werden so von der Evangelischen Kirche gestärkt, die Milieus unten in der Gesellschaft werden durch das Sich-Zurückziehen der Kirche weiter geschwächt; die Milieus der Kirchenfernen in Halbdistanz tendenziell weniger gehalten.(14)

Oder wollen wir doch eigentlich eine Reform von oben? Eine EKD, die von oben her einfach die Standards bestimmt und die Landeskirchen zwingt, sich dem anzupassen? Oder, weil das nicht durchsetzbar ist, dann eben Landeskirchen, die dementsprechend handeln? Die Kirche für alle, die die institutionellen Traditionen bruchlos weiterführt, verlässlich, verstärkt durch eine straffe zentrale Kirchenorganisation? Mancher, dem die ewigen Debatten leid sind, mag davon träumen. Aber insgesamt wollen wir das wohl kaum. Es wäre kaum eine Organisation der Freiheit, wenn nun zwar nicht angeblich göttliches Recht und unkorrigierbare Tradition, aber die Leitungsvorgaben der Organisationszentrale alles reglementieren würden.

Der Weg müsste dazwischen liegen. Es sollte die evangelische Kirche m.E. weder in Kleinstorganisationen zerfallen noch zu einer monolitischen Großorganisation verschmelzen.

Darum ist die Ebene der Kirche in der Region besonders wichtig. Hier ist das Feld, auf dem eine Balance aus Eigenständigkeit der Gemeinden und gemeinsamer Planung und gemeinsam verantworteter Schwerpunktsetzung in den Gemeinden stattfinden kann, damit für die Region die Kirche ihre Aufgaben in der Fläche so gut wie möglich leisten kann. Hier müsste der schwierige Prozess der Veränderung von Orten des kirchlichen Lebens(15)  gemeinsam gestaltet werden. Das ruft nach einer Kultur der gemeinsamen Verantwortung und der klaren Übertragung von Leitungsbefugnissen in einem Klima des Vertrauens. Wenn die Organisation der Freiheit nicht eine Freiheit der Selbstdurchsetzung von Einzelgemeinden sein soll, sondern eine Freiheit der Gemeinsamkeit der Gemeinden, dann müsste sich das bereits auf dieser Ebene klar zeigen und schon von da auf die Gemeinden positiv zurückwirken.

4. Wie passen Institution und Organisation bei der evangelischen Kirche zusammen?
Wer an die missionarische Aufgabe der Kirche denkt, der stellt sich oft die Kirche als Organisation vor. Missionsvereine des 19. Jahrhundert nahmen ja damals schon die Organisationsgestalt an: missionarische Programme mit zur Mission geschultem Personal, um das Ziel des Wachstums zu erreichen. Auf der anderen Seite: Wer die Kirche als Volkskirche versteht, der schätzt besonders den institutionellen Charakter der Kirche, ihre Präsenz in der Fläche und ihre Pluralität auch an Kirchenverbundenheit. So scheinen die beiden, seit dem 19 Jahrhunderts gepflegten, alternativen Kirchenbilder von missionarischer Kirche und Volkskirche auf der Ebene der Strukturfragen wiederzukehren. Nicht wenige Debatten über die Kirche und ihre Zukunft werden als Streit um zwei sehr unterschiedliche Bilder von Kirche geführt, das der offenen Kirche für alle einerseits und der profilierten Kirche der Beteiligten andererseits. Dann bekommen auch die Strukturfragen eine Grundsätzlichkeit, scheinen doch die Strukturreformen das eine oder das andere Bild von der Zukunft der Kirche wahrscheinlicher zu machen. Es geht dann darum, entweder die Kirche als Institution zu bewahren und die Organisationslogik zu verhindern oder die Kirche als Organisation zu erreichen und sich von der Kirche als Institution möglichst schnell zu verabschieden.

Und in der Tat. Die Bilder sind alternativ. Ihre Logiken lassen sich m. E. nicht zu einem gemeinsamen System vereinheitlichen.

Das sozialwissenschaftliche Institut der EKD hat jüngst aus den empirischen Untersuchungen „10 Fakten zur Situation der Kirche“ zusammengestellt.(16) Versucht man sich auf die auf den ersten Blick recht widersprüchlichen Fakten einen Reim zu machen mithilfe der Unterscheidung von Institution und Organisation,(17) dann zeigt sich: Es gibt empirische Nachweise dafür, dass bestimmte Phänomene der Evangelischen Kirche heute der Institutionslogik folgen (Kirchenmitgliedschaft z.B.) wie andere der Organisationslogik (Kirchenaustritt etwa).(18) De facto lebt die Kirche schon seit längerem mit beiden Kirchenbildern nebeneinander.

Was wäre, wenn sich nun eine Seite im Streit zwischen der Volkskirche und der Missionskirche durchsetzt? In beiden Fällen ergäbe es, wie die empirischen Daten vorhersagen lassen, einen Schaden für die Kirche. Dann liegt es nahe, die derzeitige Lage nicht als Unentschiedenheit zu beklagen, sondern einmal zu versuchen, genau diese Doppelheit als angemessen anzusehen, und zwar ohne die Widersprüche harmonisieren zu wollen.

Was in der Logik der Kirchenbilder gegeneinander steht, bedarf m. E. in der gegenwärtigen Situation der evangelischen Kirche der konsequenten Verknüpfung in der Praxis miteinander.(19) Eine solche besonders kluge Verkopplung des ganz Verschiedenen gibt es auch sonst. Man findet es – ich hoffe Sie verzeihen mir das Beispiel aus der Mechanik – bei der neuesten Generation von Automobilen, die auf der Internationalen Automobilausstellung in Frankfurt jüngst gezeigt wurden. Hybridautos, die mit zwei Systemen je ganz eigener Antriebsart arbeiten. Ein Elektromotor für den Stadtverkehr, ein Benziner für die langen Strecken. Evangelisch Kirche sein, so mein 5. Merksatz, heißt ein Hybrid aus Institution und Organisation bilden.(20)  Die Evangelische Kirche tut gut daran, mit beiden Motoren zu fahren. So kommt sie zur Zeit am weitesten. Dann jedenfalls, wenn die Institutionslogik und die Organisationslogik nicht gegeneinander ausgespielt werden und sich in Sachen Antrieb blockieren, weil beide den Wagen exklusiv antreiben wollen. Sie können sich gegenseitig entlasten und die andere Seite jeweils das tun lassen, was sie am besten kann. Bei manchen der Hybridautos ist es übrigens so, dass sich durch das Fahren mit Benzinmotor die Elektromotorbatterie automatisch wieder auflädt.
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5. Organisation der Freiheit aus der Gottesbegegnung
Der Hybridcharakter der Kirche ist, wie ein Blick auf andere Nonprofit-Einrichtungen lehren würde, gar nicht etwas so spezifisches.(21)  Aber es bleibt die Frage: Wie wirkt sich denn die Freiheit, die besondere Freiheit, um die es der Kirche geht, auf ihren Organisationscharakter aus? Mit Freiheit verhält es sich ja nicht so wie mit materiellen Gütern(22), die in Profit-Organisationen für Kunden hergestellt und auf Halde gelagert werden können. Freiheit braucht die Selbstbeteiligung derer, für die sie da ist.

Zur Botschaft der christlichen Freiheit passt darum die Mitbeteiligung der Mitglieder der Kirche. Für die Reformation war das das Recht der Gemeinde zur Beurteilung der Lehre, das allgemeine Priestertum aller Gläubigen. Es entspricht der Botschaft der Freiheit, wenn die Kirche dementsprechend die Gestalt einer Mitgliederorganisation annimmt. So lautet mein 6. Merksatz: Eine Organisation der Freiheit organisiert die maßgebliche Beteiligung der Mitglieder an den grundlegenden Entscheidungsprozessen.

Die christliche Freiheit ist darüber hinaus Freiheit, die Gott schenkt. Darum ergibt sich christliche Freiheit anders als die Idee der politischen Freiheit nicht einfach aus der Summe aller Beteiligten an der Idee, sondern ist selbst noch einmal auf ein Gegenüber gewiesen: eben auf Gott. Und das bedeutet ja nach evangelischem Verständnis, dass die Wahrheit sich an der Interpretation dessen, was die Glaubenden als Ort des Wortes Gottes anerkennen, zeigt. Das bedeutet: Als Organisation der Freiheit gewinnt Evangelische Kirche ihre Freiheit also dadurch, dass ihr Leitungshandeln auf die Interpretation der Schrift befragbar bleibt und Entscheidungen auf den Zusammenhang der Schrift hin plausibel gemacht werden können müssen. Leitungshandeln kann sich hier nicht allein an Effizienz und Effektivität orientieren, und auch nicht allein an Mehrheiten, es muss theologisch auskunftsfähig sein. Denn die theologische Auskunftsfähigkeit ist dazu da, deutlich zu machen, wo und inwieweit das Handeln die christliche Freiheit fördert. Damit ergibt sich als mein 7. Merksatz: Kirche als Organisation der Freiheit ist gekennzeichnet durch theologische Auskunftsfähigkeit über den Horizont ihrer Entscheidungen.

Die christliche Freiheit kommt aus der Gottesbegegnung. Darum zielt alles Handeln der Kirche darauf. Die Gottesbegegnung ist nun aber - und das wirkt auf den ersten Blick wie eine Erschwerung oder gar Verunmöglichung von Organisationshandeln und dementsprechender Leitung - von außen her nur wenig überprüfbar. Sie ist eine Erfahrung. die auf Vertrauen in Gott hin gemacht wird, sich da einstellt. Doch wie kommt es dazu? Oder: Was ist denn von der christlichen Freiheit wahrnehmbar? Leichter wahrnehmbar sind Erscheinungen der Lebenserneuerung, wo Menschen anders leben, reden, handeln aus der christlichen Freiheit heraus. So wenigsten deuten diese das. Für Außenstehende zeigt sich nur ein bestimmtes, vielleicht besonders fröhliches oder bewusstes Leben, ein sorgsames Reden, ein entschiedenes Handeln usw. Und das ist es, was man besonders gut sehen kann: wie die Gottesdienste gefeiert und wie darin gepredigt wird, in der Seelsorge beraten wird, der Unterricht aufgebaut, das politische Handeln begründet. Das alles lässt sich so deutlich wahrnehmen wie andere nichtreligiöse Erscheinungen des Lebens auch. Dieses Wahrnehmbare ist organisierbar, messbar - steht dem Organisationshandeln offen.

Eine Organisation christlicher Freiheit soll beides im Blick haben: Gottesbegegnung und Lebenserneuerung.(23) Beides ist nicht miteinander gleichzusetzen. Es ist eine besondere Versuchung der Institution der Freiheit, bei der Unanschaulichkeit der Gottesbegegnung stehenzubleiben und um konkrete Lebenserneuerungen sich weniger zu kümmern, als ließe sich hier nicht auch vieles organisieren. Als bestände christliche Freiheit nur im Handeln Gottes. Und es ist eine andere besondere Versuchung der Organisation der Freiheit, bei der Lebenserneuerung stehenzubleiben und sich weniger um die Gottesbegegnung zu kümmern. Als wäre schon mit dem kirchlichen Handeln die Gottesbegegnung automatisch gegeben.

Gottesbegegnung und Lebenserneuerung sollen nicht gleichgesetzt werden, aber auch nicht getrennt werden, sei es nun die Trennung des Rückzugs in schöne Gottesdienste oder die Flucht in spektakuläre Aktionen. Der gegenseitige Verweis ist das Spannungsvolle und das nötige. Auf Dauer ist eine Gottesbegegnung ohne Früchte wohl doch keine. Aber nur Früchte ohne Baum – das geht auch nicht. Also lautet mein 8. Merksatz: In der Organisation der Freiheit verweisen Gottesbegegnung und Lebenserneuerung aufeinander.

Für Organisationsentscheidungen ist es kennzeichnend, das man vorweg versucht, möglichst genau das Wahrnehmbare zu erfassen. Auch für eine Organisation der Freiheit ist es wichtig, Informationen zu haben. Darüber, mit welchen und wie viel Personen Arbeit geschieht, wie viele sich beteiligen, was etwas kostet usw. Besonders interessant ist auch, in welchem Maße sich bei diesen Zahlen etwas verändert hat im Vergleich zu früheren Jahren. Manches schrumpft, anderes wächst. Bei einer Profitorganisation verdichtet sich das gesamte Zahlenwerk dann zu einer Zahl, nämlich der des erzielten Gewinns. Und dann erfolgt die Entscheidung nach einem Kriterium, nämlich wie dieser Gewinn demnächst zu erhöhen sei – so meint man. Schaut man genauer hin, dann gibt es zumindest auf dem Weg dazu doch auch viele andere Faktoren von großer Bedeutung: das Ansehen des Unternehmens, die Mitarbeitenden z.B., die auch einzubeziehen und in ihrem Verhältnis zur unmittelbaren Gewinnerzielung gewichtet werden müssen. In der Kirche als Organisation der Freiheit bekommen diese Gewichtungen eine ungleich höhere Bedeutung. Wenn wir wissen, was ein Gottesdienst kostet oder was ein Friedhof usw., dann entstehen erst die entscheidende Fragen: Auf der Basis des Wissens um Zahlen und Kosten –  mit welchen theologischen Gründen ist uns welche Arbeit wie viel an Kosten wert? So dass wir dann uns dazu entscheiden: ja, das wollen wir uns mit diesen Kosten leisten. Übrigens: Auch Aufwand und Nutzen von Zahlenerhebungen selbst sollte man dann wieder gegeneinander aufrechnen. Aber in einer Organisation der Freiheit ist die Frage der Erstellung von Zahlen keine Frage des Entweder-Oder, als ob Zahlen an sich vom Teufel wären.

Entscheidend ist, dass wir eine Kultur hinbekommen, in der nicht die Fragen „Was kostet das?“  und „Können wir uns das leisten?“ der einzige Gesichtspunkt sind, sondern man sich genau darüber austauscht: Wollen wir uns etwas zu welchem Preis mit welchem Einsatz an Zeit und Personen leisten? Hier ist Theologie gefragt. Hier ist gefragt das Hören auf die Botschaft der Bibel, um mit ihren Bildern und Weisungen im Kopf nun zu ergründen, was das unter den konkreten Umständen bei begrenzten Ressourcen bedeuten kann. So wird die Gottesbegegnung zum Kriterium. Mein Merksatz 9: Die Organisation der Freiheit trifft als informierte Organisation theologisch kontrollierte Entscheidungen, damit sie für die Situation passen.

6. Was bedeutet Organisation der Freiheit für die Gemeinschaft der Kirche?
Wir erleben Kirche als Gemeinschaft, wir wünschen uns mehr Gemeinschaft in der Kirche. Die Erfahrung von Kirche als Bewegung ist: Hier entsteht, vom Geist geführt, spontane, neue Gemeinschaft mit welchen, die anders sind und draußen waren: Aussätzigen und Zöllnern, Kindern, Unbeschnittenen. Wird aus der Gemeinschaft dann im Laufe der Zeit eine Institution, entsteht Gemeinschaftsbildung meistens nicht so. Sie ist schon da, und die einzelnen wachsen in sie hinein, unmerklich und in mehr oder weniger intensiver Weise. Bewegung hat mit Gemeinschaftsbildung zu tun, Institution mit Gemeinschaftserhalt. Organisation hingegen lebt von beidem. Wenn das Ziel der Organisation berechtigt ist, dann ist es auch berechtigt, dass die Organisation sich um ihren Selbsterhalt bemüht, soweit es dem Ziel dient. „Komm hinein in meinen Club“, so lautet dann die unausgesprochene Devise. Mission meint da Einbindung in die bestehende Gemeinde. Aber wenn das Ziel der Organisation christliche Freiheit ist und wenn sie bewusst auch tatsächlich sich am Vorbild Jesu orientieren will, dann geht es auch um bewusste Neubildung von Gemeinschaft mit denen, die so ganz anders sind und bleiben. Dann heißt Organisation der Freiheit auch die Freiheit zu neuen Bildungen von Gemeinschaft, neuen Arten der Vergesellschaftung. Die entstehen dann auch durchaus neben der gewöhnlichen Ortsgemeinde. Eine organisatorische Aufgabe für die Kirche wird dann die sein, das Neue und das Bestehende zueinander in Beziehung zu setzen, nicht vereinnahmend, aber eben doch in geschwisterlicher Respektierung. Beide Seiten erkennen sich als legitime Varianten in der einen Kirche an. Kein ganz einfacher Prozess, aber ohne ihn ist die Organisation der Freiheit nicht zu haben. Kirche als Organisation der Freiheit, mein 10. Merksatz, ist gestaltete freie Gemeinschaft von Organisationen.

Woher kommt die Freiheit dazu, nicht immer mehr an Gemeinschaft fordern zu müssen? Warum ist nicht der Druck da, dass die einen möglicht genauso wie die anderen werden müssen? Darum nicht, weil angesichts der Gemeinschaft, die Gott selbst schafft, alle anderen Gemeinschaften nur relativ sind, bezogen auf Gott, und eben nicht totalitären Charakter annehmen sollen. Der stellt sich bei Religionen ja da ein, wo sie menschliche Gemeinschaft mit Gott einfach gleichsetzen – und in der Politik, wo ein politisches System Religion sein will oder Religion ersetzen will.(24) Evangelisch Kirche sein ist antitotalitär.

Wie aber ist dann überhaupt grundsätzlich das Verhältnis zwischen organisatorischen Verbindlichkeiten und organisatorischen Selbstbestimmungen in der Kirche selbst zu gestalten? Ich denke, hier ist deutlicher Entwicklungsbedarf gegeben. In der Logik der Institution wurde diese Anforderung bearbeitet mittels einer Verteilung der Aufgaben auf die unterschiedlichen Ebenen der Kirche. Die höhere Ebene setzt die Verbindlichkeiten durch einen Rahmen des Kirchrechts und durch Aufsicht über die Bekenntnisbindung. Ansonsten ist die unterste Ebene, die Gemeinde vor Ort, die entscheidende Ebene, die evangelische Kirche baut sich ja von unten her auf; hier darf es von oben her möglichst wenig Eingriff geben; alles andere als die Aufsichtsrechte und der Rechtsrahmen geht die nächsthöhere Kirchenebene von rechts wegen nichts an. Die liturgische Gemeinschaft ist ja gegeben und die Traditionen sind gemeinsame.

Begreift man Kirche als Organisation, dann wird deutlich, dass hier Veränderungen auf uns zu kommen. Sollen es Veränderungen der Freiheit sein, dann ist deren Grundrichtung klar: Auch in organisatorischen Fragen sind die Verbindlichkeiten wie die Selbstbestimmung für beide Seiten zu erhöhen. Daraus ergeben sich die Fragen: Wie können die höheren Ebenen in die Lage versetzt werden, einerseits klarer selbst bestimmen zu können über das, was die ihr übertragene Aufgabe ist? Wie können die unteren Ebenen so daran verbindlich beteiligt werden, dass sie die Grundentscheidungen mitverantworten? Mein 11. Merksatz dazu lautet: In einer Organisation der Freiheit sind Beteiligungsrechte und Entscheidungsbefugnisse geklärt und in Balance gebracht.

Wir befinden uns  m.E. in einer Situation, in der klare Leitungsrechte in der Kirche nicht bestehen, dieses für Organisationen ungeheuer wichtige Mittel noch nicht angemessen ausgearbeitet ist. Das Verhältnis der Ebenen und Organe der Kirche zueinander muss in Zukunft besser geklärt werden. Was ist genuine Aufgabe der EKD, der konfessionellen Bünde, der Landeskirchen, der Kirchenkreise, der Gemeinden? Und vor allem umgekehrt: Welche Aufgaben erfordern welche Organisationsebenen? Hierzu stehen in allen Landeskirchen und Kirchenkreisen und Gemeinden Klärungen an. Mit Aufsicht allein und ein bisschen kirchlichem Rahmenrecht ist ein gezieltes Organisationshandeln nicht zu bewerkstelligen. Es gibt dennoch schon heute Möglichkeiten, bewusste Leitungsentscheidungen zu treffen. Wo ich diese für die EKD sehe, will ich abschließend skizzieren.

7. Möglichkeiten jetzt
Wir haben m. E. einigen Konsens. Konsens darüber, dass die EKD es ist, der die Aufgabe zukommt, die Gemeinsamkeit aller Evangelischen in den Landeskirchen zu organisieren. Denn damit kann der Protestantismus in Deutschland auf der Bühne der Medien und der Politik sich deutlicher Gehör verschaffen – und übrigens, was gerne übersehen wird, seine Stimme wirkungsvoll in Europa und in internationalen Gremien zu erheben. Die EKD repräsentiert die Gesamtheit der Gemeinden und Landeskirchen. Diese Kommunikationsaufgabe lässt sich noch weiter stärken: Der Vorschlag in der Synodalvorlage, gemeinsame Themen zu identifizieren und dann auch in der Öffentlichkeit zu setzen, zielt genau darauf hin. Er sieht vor, dass die Themenfindung durchsichtig und gemeinsam geschieht und dann aber auch das Thema, das die bundesweite Ebene betrifft, von Seiten der EKD angemessen durchgeführt werden kann.

Zu klären ist, und dazu ist ein Auftrag von Ihnen, von der EKD-Synode, wichtig: Wie stehen die Rechte und Pflichten, die Entscheidungsmöglichkeiten und die Bestimmungsmöglichkeiten von EKD-Synode, Rat der EKD und Kirchenkonferenz zueinander? Rat und Ratsvorsitzender der EKD sollen schneller und eigenständiger im Laufe der Ereignisse entscheiden können und die Synode der EKD soll präziser und im Bewusstsein der dabei entstehenden Kosten etwa die Grundlinien der Arbeit der EKD für alle Evangelischen in Deutschland verbindlich festlegen können. Gleichzeitig bleibt die EKD Zusammenschluss der Landeskirchen, repräsentiert in der Kirchenkonferenz und gegliedert in VELKD und UEK. Die Organe geben ab und gewinnen.

Die Synode der EKD sollte überhaupt m.E. mehr Verantwortung übernehmen. Das ist Verantwortung auch für die Folgen von Beschlüssen. Machen Sie sich bei allen Ihren Beschlüssen klar, wie deren Umsetzbarkeit geprüft werden kann von Ihnen und was die tatsächlichen Kosten sind. Wenn ich Synodaler der EKD wäre, dann wollte ich darauf achten, dass wir dahin kommen, dass zu jedem Beschluss auch eine Kostenrechnung präsentiert wird. Ich meine damit auch eine Rechnung über die Kosten der Beschäftigung von Gremien mit Papieren, welche die Arbeitszeit der Mitberatenden, die ja von anderer Tätigkeit dafür abgezogen sind, in Geld umrechnet. Und ich würde geklärt haben wollen, wann und woran die Synode überprüfen kann, ob ihr Beschluss erfolgreich umgesetzt wurde.
Ich fasse zusammen:
Kirche als Organisation der Freiheit, das zeigt an: Kirche heute baut diesen ihren Organisationscharakter aus, aber versteht ihn nicht als Alternative, sondern als sachgerechte Ergänzung zum Institutionscharakter. Mit Hybridantrieb fährt es sich besser.

Der Freiheitscharakter der Organisation, dass man hier auf der Basis der von Gott gewährten Freiheit einander „in Freiheit begegnen und Freiheit gewähren“  will, bedeutet konkret: Den Aufgaben entsprechend die passenderweise damit befasste Ebenen bestimmen. Jede Ebene in der Kirche das tun lassen, was sie am besten kann und so Verbindlichkeiten und Selbstbestimmungen zugleich steigern. Für all das brauchen wir nicht entweder Theologie oder Zahlen, sondern Theologie und Zahlen, durch Zahlen informierte Theologie und theologisch gewichtete Zahlen.(26) (Das ist mein 12. Merksatz.)

Das Geschenk der Gottesbegegnung ist der Kirche verheißen, die Frucht der Lebenserneuerung gilt auch für die Kirche als Organisation der Freiheit und für die Struktur der EKD. Wir haben Talente in die Hand bekommen; lasst uns sie nicht in Selbstblockade vergraben. Lasst uns die Talente einsetzen und mit den anvertrauten Pfunden gemeinsam wuchern nach bestem Wissen und Gewissen. Denn darauf vertrauen wir: Der Kirche, jeder Bewegung der Gottesbegegnung ist verheißen, mit den Worten des Apostel Paulus: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“ (Gal 5, 1a)  

Fußnoten:   1 Eine Zusammenstellung und Diskussion der drei Begriffe findet sich bei  Michael Krüggeler / Karl Gabriel / Winfried Gebhardt (Hg), Institution Organisation Bewegung. Sozialformen der Religion im Wandel (Veröffentlichungen der Sektion „Religionssoziologie“ der Deutschen Gesellschaft für Soziologie Bd. 2), Opladen 1999.

2 Nach H. Tyrell zeigt sich der Institutionscharakter von Kirche darin, dass sie Religion verbindlich legitimiert, Motive definiert und vermittelt, soziale Kontrolle ausüben kann und einen selbstverständlichen Sinn und Verweisungszusammenhang liefert; sie hat eine Monopolstellung erreicht (vgl. Hartmann Tyrell, Ehe und Familie – Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung, in: Kurt Lüscher [Hg.], Die ‚postmoderne’ Familie, Konstanz 1988,145-156; ders., Katholizismus und Familie – Institutionalsierung und Deinstitutionalisierung, in: Jörg  Bergmann u.a. [Hg.], Religion und Kultur  [Sonderheft 33 der KZSS 33], 126-149).

3 Ich nehme einen Begriff auf, den T. Rendtorff geprägt hat. Vgl. etwa Trutz Rendtorff, Institution der Freiheit. Volkskirche in der Dimension des Bekenntnisses, in: Lutherische Monatshefte 15 (1976), 18-21. In Reiner Preuls „Kirchentheorie“ (Berlin /New York 1997) wird die Kirche als „Bildungsinstitution“ beschrieben (140-152).

4 Institutionenkritik erwünscht – das ist schon eine besondere Schule, eine Schule übrigens auch in der Tradition des Judentums. So wenig, wie es ein Zufall war, dass der Protestantismus sich auf dem Boden der abendländischen Kirche entwickelte, so wenig ist es ein Zufall, dass maßgebliche Freiheitsvorstellungen der Moderne sich auf dem Boden des protestantischen Christentums und in Auseinandersetzung der Protestanten mit ihren eigenen institutionalisierten Kirchentümern ausbildete.

5 G. Wegner hat das einmal klar herausgearbeitet: Gerhard Wegner, Leiden als Bedingung der Freiheit. Kirchliche Organisation und geistliche Entscheidung, in: Pastoraltheologie 89 (2000), 403-417. >

6 Die Formel „nach außen und nach unten“ übernehme ich von Wolfgang Nethöfel, Kirchenreform ist die Fortsetzung des Glaubens mit anderen Mitteln, in: ders./ Klaus-Dieter Grunwald (Hg.), Kirchenreform strategisch! Wiesbaden 2007, 26-69, hier 63 u.ö.

7 „Die christliche Kirche [...] hat mit ihrem Glauben wie mit ihrem Gehorsam, mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung [...] zu bezeugen, dass sie allein sein [Christi] Eigentum ist, allein von seinem Trost und von seiner Weisung in Erwartung seiner Erscheinung lebt und leben möchte.“

8 Vgl. W Nethöfel, a.a.O.,  31f.

9 Vgl. dazu Thomas Wex, Der Nonprofit-Sektor der Organisationsgesellschaft, Wiesbaden 2004.

10 Kirchenamt der EKD (Hg.), Statistik über die Äußerungen des kirchlichen Lebens in den Gliedkirchen der EKD im Jahr 2005, Hannover, November 2006, 4-5.

11 Vgl. als einen frühen Bericht dazu: Steffen Schramm, Strukturreform der Kirchenleitung. Drei aktuelle Beispiele, in: Pastoraltheologie 86 (1997), 223ff. Ein „Netzwerk Kirchenreform“, 2001 unter dem Namen „Netzwerk Gemeinde und funktionale Dienste“ gegründet, diskutiert seitdem Reformansätze und sucht sie zu vernetzen  (siehe www.netzwerkkirchenreform.de und die Publikationen des Netzwerks); es hatte schon seit längerem angeregt, dass die EKD ihre Verantwortung zur Sammlung, Sichtung und Verknüpfung der Reformen wahrnehme. 

12 Vgl. als Beispiel Jan Hermelink, Die Freiheit des Glaubens und die kirchliche Organisation. Praktisch-theologische Bemerkungen zum „Impulspapier „Kirche der Freiheit“ des Rates der EKD, in: Pastoraltheologie 96 (2007), 45-55.

13 Unendlich viel Zeit steht dafür aber auch nicht zur Verfügung.

14 Zur Bedeutung der Milieus vgl. Claudia Schulz / Eberhard Hauschildt / Eike Kohler, Milieus praktisch. Analyse- und Planungshilfen für Kirche und Gemeinde, Göttingen 2008.

15 Zur Begriffswahl und der dahinterstehenden Idee, statt Parochie und nichtparochiale Arbeit gegeneinander auszuspielen, sie in einer Art „dritten Weg“  miteinander zu kombinieren vgl. Uta Pohl-Patalong, Ortsgemeinde und übergemeindliche Arbeit im Konflikt. Eine Analyse der Argumentationen und ein alternatives Modell, Göttingen 2003; dies., Von der Ortskirche zu den kirchlichen Orten. Ein Zukunftsmodell, 2. überarb. u. erw. Aufl. Göttingen 2005.   16 Die Thesen und die Experten-Stellungnahmen zu ihr sind abgedruckt in: Konzentration auf die Zukunft! Die wichtigsten Fakten zur Situation der Kirche aus sozialwissenschaftlicher Sicht (Sozialwissenschaftliches Institut der EKD), epd Dokumentation 25 v. 12. 6. 2007.

17 Eberhard Hauschildt, Institution oder Organisation?, in: ebd., 15-17 u. 33f.

18 Hartmann Tyrell hat aus religionssoziologischer Sicht die Verwendungen bei der Begriffe zur Beschreibung von Kirche verfolgt. Beide liegen nicht auf einer Ebene. Das Konzept der Institution betrachtet die Makro-Ebene und fragt nach gesamtgesellschaftlichen Funktionen; das Konzept der Organisation betrachtet die Meso-Ebene und blickt auf Akteure zwischen dem Gesamten und den Individuen (Hartmann Tyrell,  Religion – Institutionen und Organisation, in: Bernhard Schäfers /Justin Stagl [Hg.], Kultur und Religion, Institutionen und Charisma im Zivilisationsprozess, Konstanz 2005, 25 - 56).  Kirche als Bewegung wäre dann entsprechend zu verstehen als Begriff, der aus der Mikroperspektive eine individuell begründete Sozialform beschreibt.

19 Es geht darum z. B. darum zu bedenken, wie in welchem Maße manche Gottesdienste zugleich in der Tradition der Kirchenjahres für die regelmäßigen Gottesdienstbesucher wie als Event für Neugierige gefeiert werden können oder dass ein bestimmtes Gebiet sozialer Arbeit, in der sich eine Gemeinde oder ein Kirchenkreis engagiert, auf Möglichkeiten der Beteiligung durch das herkömmlichen Ehrenamt wie durch Einzelaktionen und Sponsoring hin differenziert wird. 

20 Eberhard Hauschildt, Hybrid Evangelische Großkirche vor einem Schub an Organisationswerdung. Anmerkungen zum Impulspapier „Kirche der Freiheit“ des Rates der EKD und zur Zukunft der evangelischen Kirche zwischen Kongregationalisierung, Filialisierung und Regionalisierung, in: PTh 96 (2007) 56-66.

21 Dass Hybridstrukturen kein Nachteil sein müssen, sondern gerade charakteristisch sind für spezifische Einrichtungen, gilt für viele Einrichtungen in den Bereichen Kultur, Bildung, Soziales, Gesundheit. Diese bewegen sich nämlich, so die Theoriebeschreibungen, in einem intermediären Sektor zwischen den Größen Staat und Markt und Privathaushalten. (Vgl. Adalbert Evers / Ulrich Rauch / Uta Stitz, Von öffentlichen Einrichtungen zu sozialen Unternehmen. Hybride Organisationsformen im Bereich sozialer Dienstleistungen Berlin 2002; Adalbert Evers, Im intermediären Bereich – Soziale Träger und Projekte zwischen Haushalt, Staat und Markt, in: Journal für Sozialforschung 30 [1990] Heft 2, 189-210; Karl Birkhölzer u.a.,  Dritter Sektor / Drittes System. Theorie, Funktionswandel und zivilgesellschaftliche Perspektiven, Wiesbaden 2005; Eberhard Hauschildt, Zur Bedeutung der Theorie des „Dritten Sektors“ für die Praktische Theologie. Kirchliches und öffentliches Christentum in einer anderen Perspektive, in: Pastoraltheologische Informationen 26 [2006] Heft 2, 282-297.) Der intermediäre Sektor hat sich herausgebildet, weil alle drei Größen für sich genommen bei der Bewältigung der Aufgabe versagten. Die privaten Haushalte allein können das, was nötig ist an spezialisierter Bildung und Hilfe, z.B. Altenhilfe und medizinischer Behandlung, nicht selbst bereitstellen. Aber auch der Staat allein mit seiner bürokratisierten Gleichmacherei wird der Differenziertheit der Verhältnisse und Lebenswelten nicht gerecht. Und schließlich kann auch der Markt über Konkurrenz und Kaufkraft allein nicht alles bereitstellen, was nötig ist an Bildung und Hilfe und Kultur in einer Gesellschaft. Grundverschieden sind sie – die Marktlogik der effizienten Konkurrenz der Angebote, die Staatslogik der gerechten Versorgung für alle Bürger der Gesellschaft und die Haushaltslogik der Kombination von Zuneigung und ganzheitlichen Tun. Doch wenn z.B. eine Selbsthilfebewegung einen Verein gründet, der dann vom Staat gefördert wird, Personen einzustellen beginnt, und schließlich auf dem Markt in Konkurrenz zu anderen bestimmte Hilfeleistungen anbietet, sind alle drei Logiken beteiligt. Daraus resultiert eine Mischung voller Spannungen, nicht zuletzt der zwischen Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen, zwischen Vereinsvorstand und angestellter Geschäftsführung. Diese Komplexität ist der Tätigkeit angemessen. – Die Kirche gehört, von außen betrachtet, zweifellos in dieses Sektor. Sie ist eine „intermediäre Institution“ der Zivilgesellschaft (Wolfgang Huber, Kirche in der Zeitenwende, Gütersloh 1998) und hat wie alle anderen Organisationen des intermediären Sektors die Komplexität als sachgerechte Dynamik in sich. Immer wieder neue Gewichtungen der drei Logiken bilden sich in diesem Spannungsfeld. Marktnähe oder Staatsnähe oder Haushaltsnähe sind jeweils als Optionen denkbar, ohne dass sich die beiden anderen Logiken völlig gegen null bringen lassen.

22 Vgl. Eberhard Hauschildt, Ist die Kirche ein Unternehmen? Zur ökonomischen Gütertheorie und die Praxis im  Evangelischen Dekanat Wiesbaden, in: Pastoraltheologie 93 (2004), 514-528.  

23 Das Begriffspaar entnehme ich der Vorlage zur Kundgebung der EKD-Synode.

24 Vgl. insgesamt dazu etwa Friedrich Schweitzer (Hg.), Religion, Politik und Gewalt, Gütersloh 2006, darin auch Eberhard Hauschildt, Gewalt als religiöses Gruppenphänomen, 759-775.

25 Ich nehme hier die Formulierung aus dem Kundgebungsentwurf auf.

26 Wir brauchen nicht Vertrauen statt Organisation, sondern Organisationsklarheit hilft dazu, dass die in der Kirche von unklaren oder fehlenden organisatorischen Verfahren mitbeförderte so verbreitete Unkultur des gegenseitigen Misstrauens abgebaut wird. Organisationsklarheit hilft dazu, Vertrauen ineinander wachsen zu lassen. Zum Zusammenhang von Organisation und Vertrauen vgl. Walter Neubauer / Bernhard Rosemann, Führung, Macht und Vertrauen in Organisationen, Stuttgart 2006.