Beschlüsse

4. Tagung der 10. Synode der EKD, Berlin, 6. - 10. November 2005

Kundgebung zum Schwerpunktthema Tolerant aus Glauben

Kundgebung

der 10. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland

auf ihrer 4. Tagung

zum

Schwerpunktthema

Tolerant aus Glauben

Thesen

1. Als evangelische Christinnen und Christen nehmen wir den Pluralismus in unserer Gesellschaft als Chance und Herausforderung an. Dabei wollen wir unseren Glauben offen bekennen, leben und für ihn werben. Glaubensgewissheit und Toleranz gehören für uns zusammen.

2. Unsere Toleranz ist in der Toleranz des dreieinigen Gottes begründet, der alle Menschen zu seinem Bild geschaffen hat, sie liebt und sie zum Glauben an ihn ruft. Gott in seiner Gerechtigkeit verurteilt die Verletzung der Menschenwürde und den Missbrauch von Freiheit. Gottes Versöhnung öffnet allen Menschen immer wieder neu den Weg zum Glauben.

3. Toleranz zielt auf die wechselseitige Anerkennung der Würde jedes Menschen und seines Verständnisses von Wahrheit, Leben und Glauben. Dabei hängt unsere Toleranz nicht davon ab, dass sie von anderen im gleichen Maße geübt wird. Doch nur auf der Basis der wechselseitigen Anerkennung kommt es zu einer Streitkultur, die einen offenen Dialog über die unterschiedlichen Denk-, Lebens- und Handlungsweisen ermöglicht.

4. Es entspricht evangelischem Selbstverständnis, Toleranz gegenüber anderen Überzeugungen und Lebensweisen zu üben. Dieses Selbstverständnis wurde in schmerzhaften geschichtlichen Prozessen errungen. Heute sind für uns die auch in der Tradition des Christentums entwickelten Menschenrechte weltweite Grundlage allen gelingenden menschlichen Zusammenlebens.

5. Wir wissen um die Unverfügbarkeit der Wahrheit Jesu Christi, die unseren eigenen Wahrheitsanspruch begrenzt. Letzte Autorität kommt nur dieser Wahrheit zu, nicht aber denen, die sie vertreten.

6. Toleranz hat ihre Grenze dort, wo das Denken und das Handeln von Menschen das Leben und die Würde anderer gefährden und bedrohen. Als Kirche wollen wir eine verlässliche Anwältin sein für ein Leben aller Menschen in Würde und ein Ort des Widerstandes gegen jede Form von Intoleranz.

7. Im Dialog um die zukünftige Gestalt unserer Gesellschaft treten wir ein für die Toleranz als Grundlage des Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Kulturen und Religionen. Wir tun dies auf der Grundlage unserer von jüdisch-christlichen und humanistischen Traditionen geprägten freiheitlichen Rechtsordnung.

8. Damit Menschen tolerant sein können, brauchen sie gelingende Beziehungen und Bildung, die ihnen hilft, die eigene Identität zu entwickeln und die sie zu einem verantwortlichen Umgang mit dem Fremden ermutigt. Auch unser missionarisches Handeln zielt darauf, Menschen im christlichen Glauben zu verwurzeln und sie so auch zur Toleranz zu befähigen.

9. Unverzichtbar für die Entwicklung von Toleranz ist, dass Menschen die Möglichkeit zur aktiven Teilhabe an unserer Gesellschaft bekommen. Zukunftsängste befördern Intoleranz.

10. In Bindung an das Wort Gottes sind wir bereit zum Dialog. Wir streben ein versöhntes Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Kulturen, Weltanschauungen und Religionen an.
Wir bitten Gott: „Richte unsere Füße auf den Weg des Friedens“ (Lukas 1,79).


1. Die Herausforderung durch den Pluralismus

Unsere Gesellschaft ist von einer Vielfalt unterschiedlicher Überzeugungen und Lebensweisen geprägt. In ihr haben wir als Christinnen und Christen die Möglichkeit, frei unseren Glauben zu bekennen und für ihn zu werben sowie an der Gestaltung der Gesellschaft mitzuwirken. Für diese Freiheit, die vielen Christinnen und Christen in anderen Ländern vorenthalten wird, sind wir dankbar.

Angesichts der Vielfalt der in unserem Land vertretenen religiösen und weltanschaulichen Orientierungen haben die Menschen eine Fülle von Wahlmöglichkeiten. Die Botschaft der evangelischen Kirche erscheint da nur als eine Möglichkeit unter anderen. Diese Situation nötigt die Kirche, deutlich zu zeigen, wofür sie steht. Nicht weniger sind die einzelnen protestantischen Christinnen und Christen herausgefordert, inmitten konkurrierender Lebensmodelle Profil zu zeigen.
Wir stellen uns dieser Herausforderung im Vertrauen auf die Überzeugungskraft des christlichen Glaubens und auf das Wirken Gottes in der Welt.

Eine von Angst geleitete Ablehnung des unsere Gesellschaft prägenden Pluralismus kommt für uns ebenso wenig in Frage wie eine unkritische Sicht auf die Vielfalt der Überzeugungen. Denn es gibt auch Überzeugungen, die Menschen in die Irre führen oder ein friedliches Zusammenleben in unserem Land erschweren.

Die Gewalttaten politischer und religiöser Extremisten haben in den letzten Jahren viele Menschen auch in unserem Land erschüttert. Fragen wurden laut: Wo sind die Grenzen der Toleranz? Führt Religion zu Intoleranz?

Angesichts berechtigter Sorgen, verständlicher Unsicherheit bei der Begegnung mit Menschen anderer Kulturen, aber auch falscher Verallgemeinerungen und übertriebener Ängste sind Klärungen und Orientierungen notwendig.

In dieser Situation lässt sich die evangelische Kirche von zwei Perspektiven leiten: der Orientierung am biblischen Grund des Glaubens und der Aufgabe, die Situation religiöser und weltanschaulicher Vielfalt anzunehmen und mitzugestalten. Das Zusammenleben in unserer pluralistischen Gesellschaft mit ihrer säkularen Rechtsordnung setzt die Anerkennung der Würde jedes Menschen voraus. Diese Grundlage unserer Gesellschaft aber hat eine wesentliche Wurzel im christlichen Verständnis des Menschen und seiner Freiheit zum eigenen Glauben. Auch darum bejaht die evangelische Kirche das Grundprinzip dieser Gesellschaft und ihres demokratischen Staatswesens.

Gleichwohl ist der religiöse und weltanschauliche Pluralismus für die evangelische Kirche eine große Herausforderung. Die Vielfalt anderer Orientierungen des Lebens und Handelns relativiert in den Augen der Gesellschaft die Bedeutung der christlichen Antworten. Menschen anderer Religionen malen eine bunte Palette von religiösen Möglichkeiten vor Augen. Religion ist auch sonst nicht mehr nur die Angelegenheit der christlichen Kirchen. Sie begegnet in vielen individualisierten und privatisierten Gestalten. Einmal fasziniert die Esoterik mit einer bunten Mischung von Welterklärungs- und Lebensbewältigungsmodellen. Dann wieder erwecken Ereignisse, welche die Medien aufbereiten, regelrecht ein religiöses Klima. Im Sport, in der Musik- und Filmszene sind Vorgänge religiöser Hingabe zu beobachten. Unsterblichkeitserwartungen, die sich nicht selten mit der Hoffnung auf den medizinischen Fortschritt verbinden, sind häufig anzutreffen. Die Sehnsucht nach Glück und Ganzheit sucht sich in unserer Zeit viele Antworten. Das wird heutzutage gerne als Ausdruck der „Wiederkehr der Religion“ bewertet. Die Prognose, dass wir einer religionslosen Zeit entgegengehen, hat sich nicht bewahrheitet.

Doch es gibt auch einen anderen Trend, der besonders in den neuen Bundesländern Deutschlands ausgeprägt ist. In vielen Regionen bestimmt die Konfessionslosigkeit das Leben von drei Vierteln der Bevölkerung. Die Frage, wie nicht-glaubende Menschen einen Zugang zum Glauben und zur Kirche finden können, stellt dort die größte Herausforderung für die Kirche dar. Es darf wohl gelten: Nur wenn die Kirche, wenn Christinnen und Christen im Leben dieser Menschen präsent sind, wird Bewegung in die atheistischen Lebenseinstellungen kommen. Dieses Dasein für alle aber ist für eine Kirche als gesellschaftliche Minderheit aufgrund geringer personeller und finanzieller Ressourcen schwierig zu realisieren. Dennoch besteht kein Anlass zur Resignation.

Die Kirche ist auch im Osten Deutschlands eine wichtige Kraft, die für die Menschen da ist. Wie in ganz Deutschland ist auch in diesem Teil die Zahl der Kirchenaustritte rückläufig. Statistiken weisen ein verstärktes Interesse an Taufen, Konfirmationen, kirchlichen Eheschließungen und Bestattungen aus. Die evangelische Kirche wird als kompetente Partnerin in wichtigen Lebensfragen wahrgenommen. Die Erwartungen vieler Menschen, vor allem aber unser Auftrag verpflichten uns dazu, in der diffusen religiösen Szene unserer Gesellschaft Farbe zu bekennen. Eine Kirche, die sich nur trend-orientiert verhielte, wäre in dieser Situation ein schwankendes Blatt im Winde. Darum ist sie einerseits vor die Frage nach der Festigkeit ihrer Botschaft und ihres Glaubens gestellt. Andererseits ist sie verpflichtet, die Anliegen zu respektieren, die sich in religiösen und atheistischen Lebenseinstellungen in ganz Deutschland melden. Glaubensfestigkeit und Toleranz gegenüber anderen Wahrheitsgewissheiten - beides ist heute nötig.


2. Toleranz als Gesellschaftsprinzip

Unter Toleranz kann Verschiedenes verstanden werden. Wörtlich bedeutet der Begriff eigentlich Erdulden. Orientiert man sich daran, dann handelt es sich bei der Toleranz um ein passives Aushalten von anderen Menschen, ihrer Überzeugungen und Verhaltensweisen. Eine derartige Toleranz kann sich durchaus mit Ablehnung und Missachtung von Menschen vertragen, die nicht den eigenen Maßstäben entsprechen. Sie nimmt das Zusammenleben mit Menschen, die religiös, weltanschaulich oder kulturell anders geprägt sind, bloß zähneknirschend hin. Sie hat kein Interesse daran, mit diesen Menschen in eine Beziehung zu treten.

Der Toleranzgedanke, der mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verbunden ist, enthält dagegen ein aktives Element. Es folgt aus dem Prinzip der Anerkennung der Würde eines jeden Menschen. Würde verdient Achtung. Achtung aber duldet die anderen Menschen mit ihren Überzeugungen und Lebensweisen nicht nur. Sie verlangt von den Gliedern der Gesellschaft den gegenseitigen Respekt, der den Respekt vor ihren Anschauungen, Glaubens- und Lebensweisen einschließt. Sie räumt jedem Menschen die Freiheit zur Entfaltung des eigenen Lebens ein und befördert sie.

Eine solche Toleranz hat allerdings Grenzen. Sie werden sichtbar, wenn einige Menschen oder Gruppierungen ihre Freiheit dazu missbrauchen, sich selbst intolerant zu verhalten. Intoleranz ist eine Brutstätte von Unfrieden und Gewalt. Sie lehnt andere Überzeugungen nicht nur ab, sondern neigt dazu, Menschen mit anderen Verhaltensweisen und Prägungen zu diskriminieren, zu unterdrücken und zu bekämpfen. Mit der Duldung solcher Intoleranz würde sich die Toleranz selbst das Wasser abgraben. Der demokratische Rechtsstaat setzt darum der Verbreitung des Gedankengutes und der Praktiken der Intoleranz aller Art durch seine Gesetzgebung Grenzen. Doch Toleranz, die äußerlich erzwungen werden muss, ankert nicht im Bewusstsein der Menschen. Entscheidend ist darum, wie in der Gesellschaft ein Geist der Toleranz lebendig sein kann. An dieser Stelle gewinnt das christliche Verständnis der Toleranz eine wichtige gesellschaftliche Bedeutung.


3. Gottes Toleranz

Intoleranz gegenüber anderen Menschen verträgt sich nicht mit dem Gott, der den Glauben der Christenheit erweckt. Das ist gegen den Geist und die Praxis der Intoleranz zu sagen, durch die auch unsere Kirche Schuld auf sich geladen hat. Denn für Gott den Schöpfer bleiben alle Menschen, auch wenn sie sich in ihrem Denken und Handeln gegen ihn wenden, bejaht und geachtet. Darum wurde er in Jesus Christus Mensch und litt am Kreuz für sie, um sie von ihrer Sünde und Schuld zu befreien. Gott wendet sich Menschen zu und gibt ihnen Zeit, sein Wort zu hören und sich von seinem Heiligen Geist anrühren zu lassen. Bis sein Reich sichtbar kommt, duldet er das, was ihm widerspricht. Martin Luther hat diese Geduld Gottes seine Toleranz genannt. Zu dieser Toleranz Gottes gehört für Luther auch die Lenkung, Leitung und Begrenzung des ihm Widersprechenden. Der Glaube an diese Führung Gottes widerspricht der Anmaßung, selbst die Grenzen der Toleranz Gottes zu definieren.

Bezeugt die Gemeinde Jesu Christi diesen Gott, dann kann sie das nur in einer Art und Weise tun, die sich an seiner Toleranz orientiert. Sie weist durch ihr Reden und Handeln auf die Liebe Gottes als das Band hin, das alle Menschen verbindet, selbst wenn sie ihm nicht die Ehre geben und sich nicht so verhalten, wie es seiner Geschöpfe würdig ist. Die Achtung der Person steht an erster Stelle, auch wenn ihre Werke und Überzeugungen kritisiert oder abgelehnt werden müssen. Beides muss auch im Verhältnis zu Menschen, die einer anderen Religion oder Weltanschauung anhängen, glaubwürdig erfolgen. Intoleranz und Ungeduld schaden dieser Glaubwürdigkeit. Eine christliche Gemeinde wird anderen Glaubens- und Lebensweisen darum geduldig und respektvoll neben sich Raum geben. Zugleich aber wird sie in Freiheit darstellen, was Gottes Wahrheit für sie bedeutet.

Wahrheit ist nicht etwas, das Menschen besitzen. Wahrheit kommt im biblischen Sinne nur Gott und seinem Handeln zu. Wenn die christliche Gemeinde überzeugt ist, menschlichen Haltungen und Taten widersprechen zu müssen, geschieht das nicht mit dem Anspruch, über die Wahrheit schlechthin zu verfügen. Ein derartiger Absolutheitsanspruch verbietet sich für Menschen, die selber immer darauf angewiesen bleiben, dass Gott sie von ihren allzu menschlichen Verfestigungen seiner Wahrheit frei macht. Die Wahrheit, in der sich Gott Menschen in Jesus Christus zuwendet, bleibt für sie ein so unverfügbares Ereignis wie die Liebe eines anderen Menschen. Alles Zeugnis der Wahrheit steht zudem unter dem Vorbehalt ihrer endgültigen Offenbarung am Ende der Zeiten.

Der Grundton des christlichen Wahrheitszeugnisses ist deshalb die Bitte an Andere (2. Korinther 5,20), sich für Gott zu öffnen und seiner Liebe entsprechend zu leben. Bitten ist in seinem Wesen tolerant. Es gibt Raum zum Einstimmen in Gottes Wahrheit. Intoleranz und Ungeduld verstellen diesen Raum. Eine christliche Gemeinde in den Spuren der Toleranz Gottes wird dagegen anderen Religionen, Weltanschauungen und Lebensweisen geduldig und respektvoll begegnen. Sie wird danach suchen, wo sich auch in ihnen etwas von der Wahrheit Gottes finden lässt. Weil Gott keinem Menschen fern ist (Apostelgeschichte 17,27), ist die Erwartung begründet, dass seine Wahrheit und Liebe auch dort aufscheinen, wo Menschen sich nicht zu Jesus Christus bekennen.

In solcher Erwartung steckt die Bereitschaft zum Dialog. Durch sie wird die Toleranz des christlichen Glaubens zum Motor gemeinsamen Entdeckens der menschenfreundlichen Wahrheit Gottes inmitten verschiedener Wahrheitsgewissheiten. Leugnungen und Verdunklungen von Gottes Wahrheit in Jesus Christus müssen allerdings benannt und dürfen nicht verharmlost werden. Durch die Toleranz Gottes inspiriert, widersteht der christliche Glaube allen religiösen und kulturellen Erscheinungen, welche die Ehre Gottes leugnen oder verletzen oder welche die Würde der von Gott geliebten Geschöpfe negieren oder sie praktisch zugrunde richten. Toleranz, die in Gottes Toleranz begründet ist, steht im Dienst des Lebens und findet deshalb dort ihre Grenze, wo das Leben durch Intoleranz gefährdet oder zerstört wird. Der christliche Glaube widersteht aber so, dass Gewaltlosigkeit, Geduld und Barmherzigkeit Gottes Grund und Maßstab bleiben für das Reden und Handeln von Christenmenschen.

Toleranz gedeiht nur im Zutrauen zur Wahrheit Gottes und nicht in ihrer Relativierung. Christinnen und Christen sind nicht tolerant, obwohl sie fest glauben, sondern weil sie fest glauben.


4. Die Toleranz aus Glauben

„Fest im Glauben“ an Jesus Christus zu bleiben (Kolosser 1,23), bedeutet nicht, sich auf einmal gewonnene, verfestigte Überzeugungen zu versteifen. Die Praxis der Glaubensfestigkeit besteht vielmehr in der Öffnung für den lebendigen Geist Gottes. In solcher Offenheit zu leben, ist nicht immer leicht. Denn auch Christinnen und Christen sind von dem Übel angefochten, das Intoleranz und eigenes Versagen im Leben anrichten. Aber sie machen auch die ermutigende Erfahrung, dass ihnen starke Impulse der Menschenfreundlichkeit in der Bibel und im Leben der Gemeinde begegnen. Wer fest im Glauben ist, vermag andere mit den Augen Gottes zu sehen. Durch diesen Perspektivenwechsel kann eine tiefe Solidarität mit jedem von Gott geliebten Menschen entstehen.

Festigkeit im Glauben ist angewiesen auf vielfältige Orte des Lernens in Kirche und Gesellschaft. Dort ist der Raum, sich den Grund des Glaubens in wechselvollen Lebenslagen zu vergegenwärtigen und argumentativ zu vertreten. Glaube und Bildung gehören zusammen wie Bildung und Freiheit. Die Gewissheit der eigenen Identität ist die Grundlage einer gelingenden Begegnung mit Andersdenkenden. Zur verstehenden Hinwendung gehört die Profilierung der Unterschiede. Toleranz schließt kritische Auseinandersetzung nicht aus, sondern bildet ihre Voraussetzung.

Gottes Geist schenkt uns unsere Identität und den Grund unseres Lebens täglich neu. Das erleben wir im Gottesdienst, im Gebet und im Leben mit der Bibel immer aufs Neue. Darauf können wir auch verweisen, wenn wir nach unserer Identität gefragt werden. Das spezifisch Christliche besteht nicht in einem Einerlei des Ausdrucks. Es kann sich mit unterschiedlichen Schwerpunkten und in Graden der Intensität darstellen. Wer es mit einer evangelischen Gemeinde zu tun bekommt, wird darum eine große Vielfalt von Überzeugungen und Lebensstilen erleben. Worauf es für die Gemeinde aber ankommt, ist, durch ihre vielfältigen Lebensäußerungen hindurch diesen einen Reichtum glaubwürdig und einladend zu bezeugen.

Dabei soll für alle klar erkennbar werden, dass die evangelische Kirche unmissverständlich für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung eintritt. Sie ist in der Wahrnehmung ihres Auftrags eine verlässliche Anwältin eines gelingenden Lebens von seinem Beginn bis zu seinem Ende. Das gilt in vielen Hinsichten: Sie tritt unzweideutig für die gleiche Würde und die gleichen Rechte von Männern und Frauen ein. In der Debatte um die notwendigen Reformen der sozialen Sicherungssysteme setzt sie sich insbesondere für die Schwächsten ein, die ihre Anliegen oft nur sehr unzureichend vertreten können. Sie fordert aber auch, die Belange künftiger Generationen stärker zu berücksichtigen, um der Gerechtigkeit zwischen den Generationen besser zu entsprechen. Sie steht Menschen aus anderen Ländern bei, wenn sie einem überzogenen Anpassungsdruck ausgesetzt sind oder Sprachbarrieren zu überwinden haben. Der Diskriminierung von Menschen mit geringer Bildung tritt sie entgegen. Sie setzt sich für mehr Bildungsgerechtigkeit ein. Sie tritt dafür ein, dass Menschen in Würde alt werden und in Würde sterben können. Sie wehrt sich auch gegen eine Verzweckung des Menschen, wie sie in Teilen der bioethischen Debatte zum Ausdruck kommt.

Wir leben in einer Zeit, die durch große Verunsicherungen geprägt ist. In diesen Tagen sind wir erschüttert angesichts des Ausbruchs von Gewalt, den wir in Frankreich und andernorts erleben. Als Kirche haben wir den Auftrag, in dieser Situation zu einer menschenfreundlichen Kultur beizutragen. Es darf nicht sein, dass ganze Gruppen von Menschen ausgegrenzt und der Perspektivlosigkeit überlassen werden. Angst und Chancenlosigkeit können jederzeit eine Quelle der Gewalt werden.

Toleranz gegenüber menschenfeindlichen Ideologien und menschenverachtenden Handlungen ist für evangelische Christinnen und Christen ausgeschlossen. Die evangelische Kirche widersetzt sich politischem Extremismus, Rassismus und Antisemitismus. Sie wendet sich gegen politische und religiöse Praxis, die Menschen an Leib und Seele Schaden und Leid zufügt. Sie lehnt insbesondere jede religiöse Begründung von Diskriminierung ab. Sie pflegt das klare Wort gegenüber den staatlichen Institutionen und den Verantwortlichen der Wirtschaft und tritt für sozial gerechte und menschenwürdige Verhältnisse ein. Sie wendet sich gegen jeden Missbrauch von Religion, der Menschen entmündigt, und gegen eine Form des Atheismus, der sie verdummt. Sie widersteht einem Menschenbild, das Gottes Geschöpfe auf ihre materiellen Bedürfnisse reduziert und den Konsum zur Heilsverheißung stilisiert.

Die evangelische Kirche möchte mit alledem dazu beitragen, dass es gar nicht erst zu Ausbrüchen von Intoleranz in unserer Gesellschaft kommt. Sie bietet sich darum als ein Raum an, in dem sich die verschiedenen religiösen, kulturellen und ethischen Strömungen in Freiheit zueinander begegnen können. Es ist ihr Bestreben, gemeinsame Anliegen religiös und weltanschaulich unterschiedlich gesinnter Menschen zu entdecken. Eine Unterschiede leugnende Religionsvermischung lehnen wir ab. Unsere Kirche arbeitet an einer Kultur gegenseitiger Achtsamkeit, wobei sie die christliche Prägung unserer Gesellschaft durch die Geschichte des Christentums in Anspruch nimmt. Diese Geschichte enthält ein Potenzial von Humanität, dem sich auch Menschen verpflichtet sehen, die der Kirche fern stehen.

Mit ihnen und den anderen christlichen Kirchen zusammen will die evangelische Kirche erreichen, dass Menschen mit anderen religiösen und kulturellen Traditionen das Leben in unserer Kultur als Chance erfahren. Sie sind eingeladen, unsere Gesellschaft mit ihrer Kultur und ihren Einsichten zu bereichern. Je überzeugender die evangelische Christenheit diese Einladung vorlebt, um so mehr wird sie der pluralistischen Gesellschaft zum Segen werden. Je eindeutiger sie mit ihrem Leben den Glauben an den menschenfreundlichen Gott in unserer Gesellschaft darstellt, um so mehr wird der bunte Pluralismus dieser Gesellschaft ein menschenfreundliches Gesicht gewinnen.


Berlin, den 10. November 2005


Die Präses der Synode
der Evangelischen Kirche in Deutschland


Die Veröffentlichung der Beschlüsse erfolgt unter dem Vorbehalt der endgültigen Ausfertigung durch die Präses der Synode!