Blick hinter die Kultur-Kulissen

Mehrnousch Zaeri-Esfahani floh einst selbst aus dem Iran und berät heute diakonische Mitarbeiter in der Flüchtlingsarbeit

20. Juni 2016

Mehrnousch Zaeri-Esfahani
Mehrnousch Zaeri-Esfahani entdeckte als Autorin die eigenen Wurzeln. (Foto: www.bilderlaube.de)

Sie ist ein Glücksfall für die Flüchtlingsarbeit: Mehrnousch Zaeri-Esfahani selbst floh mit ihrer Familie aus dem Iran. Heute ist die Mutter von drei Kindern hauptberuflich für das Diakonische Werk im Kirchenbezirk Baden-Baden-Rastatt (Evangelische Landeskirche in Baden) unterwegs. Zeitweise war sie Vorsitzende des heutigen Flüchtlingsrats. Preisgekrönt sind ihr Spiel Asylopoly und der Aufbau des kostenlosen Dolmetscherpools für den Kreis Baden Baden und Rastatt. Nebenher schaffte sie es noch, Bücher zu schreiben: Eine Autobiografie schildert ihre ersten Monate in Deutschland, außerdem sind ein Roman und ein Jugendbuch erschienen.

Mit dem Schreiben hat Mehrnousch Zaeri-Esfahani ihre eigenen Wurzeln wieder entdeckt und auch ihre Familie zu ihrer “persischen“ Kultur zurückgeführt. Vor über 30 Jahren war sie als Zehnjährige über die Türkei und die DDR von Isfahan nach Heidelberg gekommen. Dort hat sie Abitur gemacht, später Sozialpädagogik in Freiburg studiert. Seit 1999 ist sie in der Flüchtlingsarbeit aktiv und kümmert sich um Asylbewerber wie Ehrenamtliche, die sie professionell begleitet – anfangs für das Diakonische Werk in Lörrach.

Eigene Identität kennen

Nach der Flucht hatte ihr Vater beschlossen, dass die Kinder nur noch Deutsch sprechen müssen und den Iran nie wieder sehen würden. Mehrnousch Zaeri-Esfahani erlebte am eigenen Leib, wie ihre Anpassung zum Identitätsproblem wurde.

Ihren Vortrag “Interkulturelle Kompetenz für die Zusammenarbeit mit Geflüchteten“ hat sie inzwischen umgetauft und nennt ihn Denkwerkstatt. Er ist längst ergänzt mit Anregungen mancher der rund 2000 Menschen, die ihn bislang gehört haben. Die Referentin muss sich nicht um Dialog bemühen. Zum Thema Flüchtlinge gibt es immer Fragen, Persönliches fließt mit ein, Ideen werden entwickelt und wieder verworfen. Die Gespräche sind impulsiv, erheitern und sorgen für Aha-Erlebnisse.

Mehrnousch Zaeri-Esfahani nennt sich selbst eine Geschichtenerzählerin. Sie schafft es mit ihren lebendigen Beispielen, Verhaltensweisen die Fremdheit zu nehmen. Ihr geht es darum, Ehrenamtlichen zu helfen, sich bei ihrem Engagement vor Verletzungen zu schützen. Jeder, der mit Flüchtlingen arbeiten wolle, lasse sich auf eine sehr schwierige Situation ein und sollte gut gerüstet sein, sagt sie. Es helfe, sich darüber klar zu werden, welche Haltung man selbst hat. Mit beiden Beinen fest auf der Erde zu stehen, sieht sie als gute Basis dafür.

"Wir müssen unser Verhalten immer wieder erklären“

“Misslungene interkulturelle Kommunikation provoziert Konflikte“, diese These stellt sie in den Raum. Genauso deutlich ist ihr Rat, authentisch zu bleiben und sich genauso zu verhalten, wie man ist. Die Fremden müssten lernen, uns zu verstehen. “Von wem sollten sie das sonst als von uns Wohlgesonnenen?“ Sie macht Mut zur Lücke und warnt vor allzu hohen Ansprüchen an sich selbst. “Wir müssen nicht alles verstehen, sondern unser eigenes Verhalten immer wieder erklären.“ Es gehe nicht darum, zu wissen, warum ein Chinese dreimal und ein Afghane zweimal nickt.

Das entlastet die Zuhörenden enorm. Auch ihr guter Tipp, sich keine Tabus aufzuerlegen, miteinander über unschöne Vorfälle und Erlebnisse zu reden, fällt auf fruchtbaren Boden. Niemand sollte Angst davor haben, in die rechte Ecke gedrängt zu werden, nur weil er sich kritisch über Flüchtlinge äußert. Die 42-Jährige findet es legitim, sich darüber zu unterhalten, was wirklich passiert. Manchmal führe die große Hilfsbereitschaft auch zu einer großen Naivität und zum Glauben, alle Flüchtlinge seien gut. “Das sind sie natürlich genauso wenig wie alle anderen Menschen.“

Clanstrukturen verstehen

Solche klaren Aussagen haben Elisabeth Hille beeindruckt. Sie hat die Beraterin 2014 kennengelernt, als die Flüchtlingsinitiative Arbeitskreis Integration Linkenheim-Hochstetten (AKI), von den Kirchen, der Kommune und dem CVJM gegründet wurde. Bei der Vorbereitung auf die erwarteten 120 Flüchtlinge sollten “keine getrennten Süppchen gekocht werden“. Deshalb wurde Mehrnousch Zaeri-Esfahani als Fachberaterin engagiert. Sie half mit einem geordneten Verfahren, den Einsatz in Gruppen mit unterschiedlichen Arbeitsinhalten u.a. für Sprachunterricht, Freizeitgestaltung und den internationalen Treffpunkt, zu strukturieren und die Vorhaben in die Tat umzusetzen.

Elisabeth Hille konnte das, was sie mit den Geflüchteten erlebte, nach den Fortbildungen “besser einordnen.“ Irritiert war sie vom “starken Eingebundensein in den Clan“ und “weil viele Leute alles einfach abnickten“. Als Lehrerin fiel ihr auf, wie unselbständig Flüchtlingskinder sind. In der Schule prallten Welten aufeinander. Ihr Unbehagen verschwand, als Mehrnousch Zaeri-Esfahani erläuterte, dass die meisten Neuankömmlinge aus einem kollektivistischen System stammen, wo die Großfamilie, einmal hineingeboren, für immer das Sagen hat. Ganz unten in der Hierarchie des Kollektivs stünden die Kinder. Sie dürften keine Meinung äußern oder eigene Bedürfnisse entwickeln. In Deutschland sei das Gegenteil der Fall. Die Kleinfamilie fördere die Kinder, damit sie später ihren Weg eigenständig gehen. Das Bildungssystem sei entsprechend aufgebaut.

Im Kollektivismus gebe es außerhalb des Kollektivs oder Clans keinerlei Schutz. Um die Sicherheit im Kollektiv nicht zu verlieren, sei es logisch, Konflikte zu vermeiden. Käme es doch zu Auseinandersetzungen, gehe es in erster Linie darum, auf allen Seiten das Gesicht zu wahren, weniger um die Sache.

Ein Rechtsstaat gibt Sicherheit – auch um Risiken einzugehen

In individualistischen Systemen wie der Demokratie versuche man dagegen, Konflikte aktiv zu lösen. Man könne Risiken eingehen, da der gesetzliche Rahmen Sicherheit biete, staatliche und soziale Institutionen dafür sorgten, dass keiner abstürze. Jeder habe die gleichen Rechte und könne sich darauf verlassen oder sie notfalls einklagen. Im Kollektivismus sei man dagegen auf die Großzügigkeit der Clanoberen angewiesen.

Als Beispiel für die Auswirkungen einer kollektivistischen Erziehung nannte die Referentin ihren Vater, einen angesehenen Arzt in seiner persischen Heimat. Er verstand in Deutschland lange nicht, warum die Sachbearbeiterin auf dem Amt so oft “nein“ sagte und später dann doch die Dokumente abstempelte. Zaeri-Esfahanis ganze Familie brauchte Jahre, um zu begreifen, dass Rechte in einer Demokratie etwas ganz anderes sind, als auf Gefälligkeiten und Wohlverhalten von oben zu bauen.

Elisabeth Hille motivierten diese Erzählungen, geduldiger zu sein und bestimmte Verhaltensweisen nicht sofort negativ zu bewerten, sondern einfach mal stehen zu lassen. Das gelang ihr später genauso in der Steuerungsgruppe für die Flüchtlingsarbeit – dank Zaeri-Esfahanis Hinweis darauf, dass auch die Helfenden ganz unterschiedlich “ticken“ und sich das gegenseitig ein- und zugestehen sollten.

Nur wer seinen Ursprung kennt, kann Neues annehmen

Die Beratungen der Sozialpädagogin veränderten den Blick der Lehrerin auf Integration. Es leuchtete ihr plötzlich ein, dass pure Anpassung nicht reicht. Nur wer die Generationenaufgabe schafft, erklärte ihr die Sozialpädagogin, seine Ursprungskultur zu pflegen und die neue intensiv kennen- und akzeptieren zu lernen, werde vor Identitätsproblemen bewahrt.

Mehrnousch Zaeri-Esfahani stört es deshalb besonders, “dass Politik nur auf verpuffende, kurzfristige Maßnahmen setzt“ – als Reaktion auf Stimmungen in der Bevölkerung und Parteipolitik. “Das verhindert nachhaltige Lösungen“, sagt sie. Erkenntnisse aus wissenschaftlichen Studien zu Integration würden ignoriert. Deshalb werde von den Neuankömmlingen weiter erwartet, sich der deutschen Gesellschaft anzugleichen. Das sei bequem für das Aufnahmeland, aber gefährlich, weil der Identitätsverlust für Radikalisierung anfällig mache. “Wir brauchen die Flüchtlinge dringend als Brücken zu ihren Ländern, um unsere Demokratie zu exportieren und erwarten trotzdem von ihnen Deutsche zu werden. Irgendwann fehlt der Zugang zur Heimat. Dann können sie nicht mehr zurück“, so die Fachberaterin.

Diese Erkenntnisse haben Elisabeth Hilles Verhalten beeinflusst. Sie tauscht sich nun mit den Flüchtlingen aus: “Wir lernen viel voneinander“, so Hille. Sie sei gelassener geworden und finde es nicht mehr schlimm, wenn sich alles von jetzt auf nachher ändert. Sie wisse jetzt, dass die anderen keine Perfektion von ihr erwarten. Ihre Haltung sei nun eine neugierige, fragende. “Immer wieder überdenke ich mein eigenes Handeln und meine Rolle.“ Die Pädagogin springt nicht mehr bei jedem Hilferuf auf, sondern fragt sich zuerst, was sie will, und was die Flüchtlinge brauchen, um in Deutschland eigenständig leben zu können. “Wenn die Hilfe zur Selbsthilfe erfolgreich war, müssen wir uns zurückziehen.“

Genau getaktet oder flexibel

Doch bis dahin berät auch Fachfrau Zaeri-Esfahani weiter. Für Ehrenamtliche sind Zeitverständnis und Zeitgefühl ein wichtiges Thema. Deshalb geht sie bei ihren Weiterbildungen immer darauf ein. Sie versucht zu begründen, warum Flüchtlinge so oft zu spät oder gar nicht kommen und stellt das deutsche monochrone Zeitverständnis vor: “Die Zeit vergeht und muss genutzt werden.“ Vielen Einheimischen sei neu, dass diese Auffassung die Ausnahme in der Welt ist. In den meisten Ländern herrscht ein polychrones Zeitverständnis, das sich auf alle Lebensbereiche auswirkt und eine hohe Flexibilität erfordert. “Unsere Zeit dagegen ist exakt getaktet. Die Uhr ist ständig präsent. Das ermöglicht genaue Planung, verbindliche Verabredungen und vermittelt ein Gefühl der Sicherheit“, erläutert Zaeri-Esfahani. “Wir können eins nach dem anderen erledigen.“

Im polychronen Zeitverständnis gebe es zwar einen Rhythmus, der sei aber mal langsamer, mal schneller. Überraschungen seien an der Tagesordnung, nichts sei planbar, was man heute besorgen könnte, gehe auch morgen noch. Wie sich das Zeitverständnis auf alle Bereiche des Lebens auswirkt, und sogar für Ungerechtigkeit sorgt, machte sie an ihrem eigenen Erleben als Schülerin in Isfahan, der zweitgrößten Stadt in Iran, deutlich. Wenn der Schulbusfahrer noch schnell zum Frisör gehen wollte, kamen die Kinder zu spät in die Schule und wurden deshalb geschlagen. Also ließ ihr Vater, wie andere Wohlhabende auch, seine Kinder pünktlich mit dem Taxi in die Schule bringen.

Situationen werden völlig anders verstanden

Genau solche Beispiele ließen bei Pfarrerin Nicole Enke-Kupffer in der Denkwerkstatt gleich “mehrere Kronleuchter“ aufgehen. In Pfinztal hatte Sozialpädagogin Zaeri-Esfahani Ehrenamtliche in der Flüchtlingsinitiative von Kirchen und Kommune begleitet und Vorträge gehalten. “Das war sehr zielführend und hilfreich“, erinnert sich die evangelische Seelsorgerin, Mitbegründerin der Initiative, “weil sie nicht nur moderiert, sondern auch über interkulturelle Besonderheiten informiert hat“. Zum Beispiel beim völlig verunglückten Wellness-Frühstück. Einige Mütter aus der Gemeinschaftsunterkunft waren zum Frauenfrühstück eingeladen worden, ausdrücklich ohne ihre Kinder. Sie sollten sich erholen, sich etwas gönnen. Erst kam gar keine, dann ließen sich drei überreden. Doch schon nach wenigen Minuten auf der Stuhlkante verschwanden die Frauen wieder von der Bildfläche, nicht ohne vorher alle Brötchen eingesteckt zu haben.

“Was machen wir nur falsch?“ Mehrnousch Zaeri-Esfahani beantwortet solche Fragen. Dabei lässt die Geschichtenerzählerin immer wieder 1000 und eine Nacht durchscheinen. Viele Angebote würden aus dem falschen, hier dem mitteleuropäischen Blickwinkel geplant, sagt sie zu den enttäuschten Veranstalterinnen. Das Verhalten der Gäste sei von einem ausgeprägten Gemeinschaftssinn geprägt und dem Mangel an individuellen Bedürfnissen. Die Mütter wollten gar nichts ohne ihre Kinder erleben, sondern mit ihnen das Frühstück teilen. Offene Angebote, wie Cafès, wo man kommen und gehen könne, würden eher angenommen, genauso wie die zwanglose Möglichkeit zu tanzen und Musik zu hören.

Auch die Gemeindepfarrerin von Berghausen-Wöschbach, Nicole Enke-Kupffer, die im Café International schon viele eigene Erfahrungen gesammelt hatte, profitierte von den Dialogen zwischen Referentin und Ehrenamtlichen, besonders als es um ein Werbefoto für Möbel ging: eine Frau – ein Glas Wein in der Hand – am Kaminfeuer, hineingekuschelt in einen weichen Sessel. Die Zuhörenden waren sich sicher über die Aussage: Gemütlichkeit, Entspannung, Feierabend. Viele Flüchtlinge aber, so Zaeri-Esfahani, sähen auf dem Bild etwas völlig anderes: eine arme, einsame Frau, die keine Freunde und keine Familie hat und deshalb trinkt.

Kleinere Brötchen backen

Mit wem identifiziert sich das ehemalige Flüchtlingsmädchen Mehrnousch? “Nicht mit den Flüchtlingen, dazu bin ich einfach schon zu Deutsch.“ Sie wahrt professionelle Distanz und sieht sich in erster Linie als Sozialpädagogin, die sich im Lauf der Zeit stark verändert hat. Anfangs fiel es ihr schwer, die Welten zu trennen und nach einem Gespräch mit einem Kindersoldaten abends im Fernsehen gelassen die Werbung für ein Hunde-Weihnachtsmenu zu sehen. “Da klaffte zuviel auseinander.“ Nach vielen Jahren hat sie ihren Weg gefunden. “Ich bin habe akzeptiert, dass ich nicht die ganze Welt verändern kann.“ Zaeri-Esfahani backt nun kleinere Brötchen und freut sich, wenn sie einem Flüchtlingskind ein Lächeln auf die Lippen zaubern oder seinen Eltern einen schönen Tag bereiten kann. Diese Erkenntnis gibt ihr Frieden und innere Ruhe.

Früher sei sehr kämpferisch gewesen und habe damit so manche Ehrenamtlichen verschreckt, erinnert sie sich. Jetzt erreiche sie ihre Herzen, meint sie, “das macht ihnen Mut und lässt sie ihre Fähigkeiten entdecken“. Parallel dazu habe sie ihren Blick auf die eigene Integration geschärft und erkannt, “dass es eigentlich nur eine Assimilation gewesen ist“. Deshalb hat Persisch wieder einen Stellenwert in ihrer Familie, ist die alte Heimat endlich Thema, es darf um sie getrauert werden. Ihre Eltern, sie selbst und ihre Geschwister sind sich einig, dass mit ihrer kulturellen Öffnung hin zum Iran eine große Last von ihren Schultern gefallen ist. “Wir können ein neues Leben beginnen, weil wir die Geschichte zu unserer eigenen gemacht haben.“

Dass es nicht nur ihr so geht, zeigen die bewegenden Gespräche, die Mehrnousch Zaeri-Esfahani nach ihren Workshops und Denkwerkstätten führt. Es kommen deutsche Vertriebene, Menschen aus der ehemaligen DDR, Deutschstämmige aus Russland, die sich plötzlich darüber klar geworden sind, was ihnen fehlt. Damit hat die Sozialpädagogin beim Thema interkulturelle Kommunikation überhaupt nicht gerechnet.

Sabine Eigel (Evangelische Landeskirche in Baden)