Ein „Festival“ der Predigtbegeisterung

Predigtlehrende aus aller Welt denken in Wittenberg über die Zukunft der Kanzelrede nach

23. August 2012

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Zierlich und zerbrechlich wirkt die kleine Frau, die auf der Kanzel der Wittenberger Schlosskirche steht. Leise, viel zu leise erzählt die Homiletikprofessorin aus Südkorea den Gottesdienstbesuchern von der Situation in ihrer Heimat – von der Trennung der beiden Korea, von der Mauer in ihrem Land und von der Hoffnungslosigkeit. Die Gottesdienstgemeinde besteht aus Konferenzteilnehmern der internationalen Tagung der Societas Homiletica. Von allen Kontinenten haben sie sich nach Wittenberg aufgemacht, um über die Zukunft der Kanzelrede nachzudenken. Von Australien über Indien und die USA sind 24 Nationen vertreten. Homiletikprofessoren, Doktoranden und Lehrende an Predigerseminaren und Fortbildungsinstituten aus allen Teilen der Erde sind gekommen, um über die lebendige Stimme des Evangeliums, die „Viva vox evangelii“ nachzudenken und von den Herausforderungen zu erzählen, mit denen sie in ihren Kontexten zu kämpfen haben.

Nun recken sie ihre Köpfe, um die Predigt zu hören – denn die Stimme der Predigerin ist fast nicht zu verstehen. In manchen steigt Ärger auf – warum ist das Mikrofon nicht lauter eingestellt? Die Zukunft der Kanzelrede hatte man sich anders vorgestellt: eine Predigerin, die kaum zu verstehen ist, schlecht eingestellte Technik, enttäuschte Zuhörer – all das erzählt eher von den Missgeschicken und Peinlichkeiten, die im Gottesdienst passieren können als von der bewegenden Kraft des Wortes Gottes. Doch dann passiert etwas Unerwartetes: die Predigerin kündigt an, nun ein Lied auf Koreanisch zu singen. Räuspert sich einmal. Und ein zweites Mal. Fast bangt der Besucher um ihre Stimme, um die ganze kleine Person. Wird sie sich nicht lächerlich machen?

Das wird sie nicht. Denn die Stimme, die nun anfängt zu singen, ist wie verwandelt: kraftvoll und anmutig, wehmütig und voller Klage. Keiner der Teilnehmer spricht koreanisch, aber jeder versteht. Manchen treten die Tränen in die Augen. „Der Moment, in dem sie anfing zu singen – das war ihre Predigt“, erinnert sich später eine Teilnehmerin aus Schweden. „Das war ja eigentlich etwas ganz Unerhörtes und Wagemutiges, was sie hier gemacht hat! Es war wie ein Gebet. Das habe ich noch nicht erlebt in einer Kirche!“ Ein Homiletikprofessor aus den USA erzählt dazu: „Ich erlebe so oft Prediger, die meinen, eine Antwort geben zu müssen. Auch wenn ich selbst predige, tappe ich in diese Falle. Aber ich habe keine Antwort. Und keine Erklärung. Nur Worte der Klage, die ich Gott hinhalte.“

Dass es bei der fünftägigen Tagung der Societas Homiletica nicht bei der Predigttheorie blieb, sondern jeder Tag von Morgenandacht und Abendgottesdienst gerahmt wurde, ist ein Markenzeichen der Konferenz, die von dem bekannten Schweizer Professor für Praktische Theologie Rudolf Bohren (1920-2010) vor zwanzig Jahren mitbegründet wurde.

Beim feierlichen Eröffnungsgottesdienst predigte der Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider. Auch dass die 130 Teilnehmer nicht nur Vorträge hörten, sondern auch untereinander ins Gespräch kamen und sich am Sonntag ein eigenes Bild von der Gottesdienstlandschaft in Mitteldeutschland machten, gehört zur Tradition der Konferenz, die zuletzt vor zwei Jahren in Yale tagte und in zwei Jahren in Indien zu Gast sein wird.

Neben dem Aufenthalt in Wittenberg wurden Ausflüge in die Gottesdienste nach Dessau, Torgau, Leipzig und Halle angeboten. In diesem Jahr kam neben Vorträgen von Fachkollegen wie Jan Hermelink, Alexander Deeg und Jan-Dirk Döhling mit der Pulitzer-Preisträgerin Marylinne Robinson aus den USA auch eine Nicht-Theologin zur Wort. Gefragt, was sich die Autorin des Romans „Gilead“ von einer guten Predigt wünsche, antwortete sie: „Ich wünsche mir, dass sich Predigerinnen und Prediger trauen, über das zu sprechen, das uns im Leben und Sterben etwas angeht.“ Dass die Predigt Menschen so tief erreichen kann – das haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Konferenz am eigenen Leib erlebt. „Wie“ das Feuer der Begeisterung weitergegeben werden könnte, dazu erinnerte die Leiterin des Zentrums für evangelische Predigtkultur, Kathrin Oxen, an den Wittenberger Reformator, wie er von Lucas Cranach gemalt wurde: mit einer Hand auf der Bibel, die andere, die auf Christus zeigt – und mit dem Gesicht der Gemeinde zugewandt.