Tibet im Exil

In Dharamsala in Nordindien lebt der Dalai Lama - Wie er ist fast jeder in dem Ort ein Flüchtling

27. März 2008


Zehn Tage ist Tenzing durch Eis und Schnee gelaufen. Vielleicht auch länger, denn Tenzing ist erst fünf und weiß es vielleicht nicht genau. In diesem Alter sind Tage, Wochen und Stunden noch eine fremde Welt. Fremd wie die neue Welt, in der Tenzing nun lebt. Erst vor einer Woche haben ihn seine Eltern in das tibetische Kinderdorf in Dharamsala, im Norden Indiens gebracht.

Dann sind Vater und Mutter wieder zurück über die Berge nach Tibet. Tenzing soll in Dharamsala in die Schule gehen, er soll Tibetisch lernen und nicht Chinesisch. Wann er seine Familie wiedersieht, weiß der fröhliche Junge mit der laufenden Nase nicht. Tenzing ist nicht der Jüngste hier. Schon Zweijährige werden auf dem Rücken zum Kinderdorf getragen.

"Es gibt keinen direkten Kontakt zwischen den Kindern und den Eltern in Tibet", erklärt Dorjee. Er ist in Indien geboren und auch im tibetischen Kinderdorf in die Schule gegangen. Seine Eltern flohen 1959 mit dem Dalai Lama, dem religiösen Oberhaupt der buddhistischen Tibeter. Dorjee lebt in Südindien, aber sein Sohn geht in Dharamsala zur Schule. Er soll als Tibeter aufwachsen, wünscht sich Dorjee – genau wie Tenzings Eltern.

Jedes Jahr kommen 2.500 bis 3.000 Flüchtlinge aus Tibet ins Flüchtlingszentrum in Dharamsala, wo auch die tibetische Exilregierung und der Dalai Lama ihren Sitz haben. Von hier aus werden sie auf die tibetischen Gemeinschaften in Indien verteilt. "Ein Drittel davon sind Kinder", sagt Wolfgang Grader von der Tibet-Initiative Deutschland.

In Dharamsala sind alle Flüchtlinge. Auch Londan. Er stammt aus Bangalore in Südindien. Hier fühle er sich Tibet näher, sagt er. Er arbeite bei der Exilregierung. Doch so genau weiß man das nicht. Vielleicht verkauft der junge Mann mit Pferdeschwanz einfach nur Kleider auf den Straßenmärkten in Indien wie viele Tibeter. Londan hat nur einen indischen Flüchtlingspass. Die Arbeitsmöglichkeiten in Indien sind begrenzt. Viel Wahl bleibt ihm nicht.

Im Telefonladen kostet ein Anruf nach China drei Rupien (fünf Euro-Cents) pro Minute. Doch frei zu reden, wagt kaum einer nach den tibetischen Unruhen in der Volksrepublik der vergangenen Tage. Alle tibetischen Läden und Restaurants in Dharamsala sind aus Protest geschlossen. Die Menschen ziehen durch die beiden Hauptstraßen der Stadt und demonstrieren.

Bergauf, bergab windet sich der Zug durchs Gedränge. Schaden tun sich die Tibeter vor allem selbst damit. Das Geschäft machen nun die indischen Ladenbesitzer. "Unsere Freiheit bedeutet uns mehr als Geld", erklärt Londan fast trotzig. Er möchte irgendwann einmal nach Tibet zurück, doch er weiß auch, wie wenig realistisch sein Traum ist.

Auch die Jungen der 11. Klasse im tibetischen Kinderdorf hoffen auf die Rückkehr. Die Hälfte der Jugendlichen hat Eltern in Tibet. Hindi, eine der Hauptsprachen in Indien, lernen sie auf der Schule nicht. Die Jungen sitzen vor ihrem Schlafraum und essen Tsampa, geröstetes Gerstenmehl mit viel Butter, aus Blechtellern. Tsampa ist das Grundnahrungsmittel der Tibeter.

Etwa 120.000 tibetische Flüchtlinge leben im Ausland, etwa zwei Drittel davon in Indien. Sie versuchen, ihre Kultur in der Fremde zu erhalten. Doch damit wird ihre Kultur unweigerlich auch globalisiert. Im Kirti-Kloster unweit vom Palast des Dalai Lamas in Dharamsala steht ein junger Brite im Hof. Es ist der Englisch-Lehrer.

Touristen, Neugierige und spirituelle Sucher aus dem Westen kommen nach Dharamsala. In den Restaurants hängen Bilder von prominenten Besuchern wie Richard Gere und Pierce Brosnan. Auf dem Flughafen steigt der Dalai Lama gerade in ein altes, kleines Flugzeug. Er dreht sich an der Türklappe noch einmal um, lächelt und bedankt sich beim Sicherheitspersonal und der Flugbegleitung. Der bekannteste Flüchtling des Ortes ist auf dem Weg nach Neu-Delhi. Der Mönch ist schon lange eine globale Marke, die für Tibet steht. Es ist ein Tibet im Exil.

"Ist ein Olympiaboykott sinnvoll?" - Kolumne des EKD-Ratsvorsitzenden in der BZ vom 28. März 2008