Ursprünglich 28 Kerzen: vier weiße und 24 rote

Um Kindern die Zeit des Wartens erfahrbar zu machen

30. November 2007


Die Kinder seien „in gänzlicher Verwahrlosung und Verwilderung aufgewachsen“, eines der Kinder habe mit 13 Jahren sogar 92 Diebstähle vor der Polizei gestanden. Das schreibt der Hamburger Theologe Johann Hinrich Wichern, als er 1833 das Rauhe Haus als „Rettungsanstalt“ gründete, über die ersten Kinder, die er dort aufnahm. Er war angerührt von dem Elend, das er bei Besuchen in verschiedenen Familien angetroffen hat: „Ich bitte, mir im Geiste in diese Wohnungen zu folgen. In der Tür gerade an wohnt eine Frau, die als Kind mit Mutter und Geschwistern bei Nacht von dem trunkfälligen Vater auf die Straße getrieben zu werden pflegte. Als die Eltern gestorben waren, verehelichte sie sich und wurde Mutter von einem Sohn, der jetzt, etwa 17 Jahre alt, tagaus, tagein Lumpen und Knochen sammelt. Nach dem Tod des ersten Mannes trat die Frau in eine wilde Ehe mit einem anderen Manne.“ Auch wenn die Sprache des 19. Jahrhunderts heute fremd klingt, ist die Entrüstung und Erschütterung des Theologen zu spüren, dessen Geburtstag sich im kommenden Jahr das 200. Mal jährt.

Die Bilder, die Johann Hinrich Wichern gesehen hat, die Lebensgeschichten, die ihm erzählt wurden, hat er zum einen fein säuberlich notiert, zum anderen in seinem Herzen bewegt. Mit der Unterstützung wohlhabenderer Menschen hat er das „Rauhe Haus“ gegründet. Dort bot er den Kindern aus den armen Vierteln der Hansestadt nicht nur regelmäßiges Essen, Unterricht und Arbeitsmöglichkeit , sondern auch eine Eingewöhnung in den biblischen Wochenrhythmus von sechs Arbeitstagen und dem Sonntag. Mit damals ungewöhnlichen Ideen versuchte Johann Hinrich Wichern seinen Schützlingen die Bedeutung der kirchlichen Feiertage im Kirchenjahr nahe zu bringen.

Um die Adventszeit mit den Kindern zu gestalten und in der dunklen Jahreszeit – die vor 170 Jahren noch nicht durch Straßenbeleuchtung und Weihnachtsschmuck aufgehoben war – das Warten auf das Licht des Weihnachtsfestes erfahrbar zu machen, ließ Wichern in einem Jahr einen Leuchter aus einem alten Wagenrad fertigen: 28 Kerzen kamen darauf: 24 rote für die Wochentage und vier weiße für die Adventsonntage. Der erste Adventskranz war entstanden.

Kränze mit vier Kerzen wurden aus dieser Idee im Rauhen Haus in Hamburg zu einer festen Tradition, insbesondere im deutschsprachigen Raum, auch wenn die Zahl der Kerzen auf die sonntäglichen reduziert wurde und diese dann wiederum nicht immer weiß blieben. Der Kranz mit den vier Kerzen gehört zur Vorweihnachtszeit wie die Weihnachtsbäckerei, der Besuch der Weihnachtsmärkte und die kleinen und großen Geheimnisse vor dem Fest. Aber in diesem Jahr gebietet es sich zudem ganz besonders an den Erfinder der Adventskränze zu denken, da sich in wenigen Monaten sein Geburtstag zum 200. Mal jährt. Er hat nicht nur das Rauhe Haus in Hamburg gegründet, sondern mit seinem diakonisch-gesellschaftlichen Engagement in Hamburg und Berlin, mit seinen visionären Ideen einer diakonischen Kirche und seiner Grundüberzeugung, dass Glaube und Liebe zusammen gehören, die kirchlich-diakonische Wirklichkeit in Deutschland geprägt . An Wichern erinnern zwei Biographien, die rechtzeitig zum Advent erschienen sind: Uwe Birnstein, „Der Erzieher“ und Dietrich Sattler – einer seiner Nachfolger in der Leitung des Rauhen Hauses in Hamburg „Anwalt der Armen. Missionar der Kirche“. Zwei Bücher, die nicht nur an die Erfindung des Adventskranzes erinnern, sondern sich auch unter dem Weihnachtsbaum gut machen.

Advents-Initiative der EKD

Kolumne des EKD-Ratsvorsitzenden "Kinder gehen uns alle an!"

Das Rauhe Haus in Hamburg

Der Audiobeitrag entstammt: Uwe Birnstein, "Der Erzieher. Wie Johann Hinrich Wichern Kinder und Kirche retten wollte", Wichern-Verlag, Berlin 2007, Hörbuch zum gleichnamigen Buch, ISBN 978-3-88981-232-2