evangelisch Kirche sein

Synode verabschiedet Kundgebung

07. November 2007


Die evangelische Kirche ist eine Kirche der Freiheit, die in einem ständigen Erneuerungsprozess lebt. Seit mehreren Jahren werden bereits in Kirchengemeinden, Kirchenkreisen/Kirchenbezirken und Landeskirchen Reformprozesse durchgeführt, damit die evangelische Kirche unter sich verändernden Rahmenbedingungen ihrem Auftrag nachkommen kann. Diese Prozesse wurden vom Rat der EKD durch das Impulspapier "Kirche der Freiheit" aufgegriffen und weiterentwickelt. Der Zukunftskongress in Wittenberg führte im Januar 2007 die Diskussion fort und erzeugte Aufbruchstimmung.

Aufbruch bedeutet Chance und Herausforderung, erzeugt aber auch Angst vor Unbekanntem. In dieser Situation besinnt sich die evangelische Kirche auf ihr Wesen und ihren Auftrag erneut. Deshalb beschließt die Synode der EKD folgende Kundgebung:

evangelisch Kirche sein

A.

Jesus Christus spricht: "Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende" (Matthäus 28,20).

Die Kirche ist eine Gemeinschaft von Menschen, die sich der Gegenwart des gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus und dem Wirken seines Geistes verdankt. Sie begründet und erhält sich nicht selbst.

Die Kirche ist von Jesus Christus in die Welt gesandt, um die Botschaft von Gottes Liebe zu den Menschen zu bringen und Gottvertrauen, Lebensgewissheit und Nächstenliebe in ihnen zu wecken. In der Bindung an den Auftrag Jesu Christi gründet die Freiheit der Kirche. So wird sie frei, mit Mut und Phantasie ihr Leben evangeliumsgemäß zu gestalten und die vor ihr liegenden Aufgaben befreit zu bewältigen.

"evangelisch Kirche sein" heißt: im Wandel der Zeit und unter sich ändernden Bedingungen beim Auftrag Jesu Christi zu bleiben, seiner Berufung zu folgen und die in ihm geschenkte Freiheit zu leben.

B.

Im Hören auf das Evangelium und in der Feier der Sakramente wird die Kirche ihres Grundes neu gewiss. Hiermit werden die Maßstäbe für das kirchliche Leben als "vernünftiger Gottesdienst" (Römer 12,1) gesetzt und zugleich öffentlich kenntlich gemacht, was Menschen auch in Zukunft von der Kirche erwarten können. Im Gottesdienst - in seinen vielfältigen Formen im Alltag der Welt - kommen in Wort und Tat die wesentlichen Dimensionen des kirchlichen Auftrags Gottesbegegnung, Lebenserneuerung und Gemeinschaft zur Geltung.

1. Gottesbegegnung

Christinnen und Christen vertrauen darauf, dass in ihrem Zusammenkommen, im Reden und Hören, im Singen und Beten, im Handeln und Entscheiden Gott selbst gegenwärtig ist. Im Gottesdienst, in der Verkündigung des Wortes, in Taufe und Abendmahl feiert die Gemeinde in besonderer Weise die Gegenwart des gekreuzigten und auferstandenen Christus und begegnet so dem lebendigen Gott, dem Schöpfer der Welt, dem Grund und Horizont menschlichen Lebens. Aus den Worten und Geschichten der Bibel erfahren Menschen, wie Gott es mit ihnen meint: Gott ist auf ihre Würde bedacht, er gibt niemanden verloren und schenkt Hoffnung über das Sichtbare und Endliche hinaus. In der Begegnung mit dem biblisch bezeugten Gott wächst Vertrauen im Leben und im Sterben; hier hat auch das Ringen um den Glauben seinen Ort.

Gottesbegegnung ist das Grundmotiv aller kirchlichen Lebensäußerungen und entscheidendes Kriterium kirchlicher Gestaltungs- und Strukturaufgaben. Durch die Begegnung mit dem lebendigen Gott erfährt der Mensch die rechtfertigende und heilende Gnade Gottes. Alles ist zu fördern, was dieser Begegnung dient; alles ist zu verändern, was sie behindert.

Christinnen und Christen treten deshalb gegenüber anderen für ihren Glauben ein und wissen sich dabei gehalten von der Zusage Jesu Christi: "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben." (Johannes 14,6) So eröffnen sie Gelegenheiten, dass sich andere Menschen mit diesem Glauben auseinandersetzen.

"evangelisch Kirche sein" heißt: mitzunehmen in die Begegnung mit dem lebendigen Gott.

2. Lebenserneuerung

Die Gottesbegegnung verändert den Menschen. Im Gottesdienst werden Lebensfragen aufgegriffen und vor Gott in ein neues Licht gerückt. So werden die Menschen von Gottes Güte erreicht und erfahren auf unterschiedliche Weise Lebenserneuerung:

Vergewisserung:

Worte und Taten, Lieder und Gebete, Rituale und Gesten geben Vergewisserung, Trost, neuen Halt und Mut, auch zum Widerstehen. Der Zuspruch der Vergebung ermöglicht neu anzufangen und richtet auf, wen die Last seiner Schuld niederdrückt. Gottes Segen stärkt den Lebensmut und hilft, Zeiten der Krise durchzustehen.

Erkenntnis:

Die Auslegung der biblischen Botschaft lässt deutlich werden, dass Glaube und Vernunft nicht im Widerspruch stehen. Christuserkenntnis lässt das Licht von Gottes Wahrheit im menschlichen Alltag aufscheinen und setzt neues Erkennen frei. Sie fördert die Einsicht in die Bedingungen geschöpflichen Lebens. Sie beantwortet vom Glauben her menschliche Fragen nach dem Woher und Wohin. Sie schenkt Freiheit zum Denken und Handeln und erinnert daran, dass es heilsam sein kann, manche Fragen nicht beantworten zu müssen und nicht alles zu tun, was getan werden könnte. Christinnen und Christen suchen und pflegen selbstbewusst das offene Gespräch über die Fragen der Erkenntnis und der Weltdeutung der Gegenwart.

Orientierung:

Gottes Weisung gibt evangelischem Handeln Orientierung. Im Bedenken seiner Gebote werden menschliche Gefährdungen und Abgründe offensichtlich und zugleich Wege zum Leben gewiesen. Keine Rezepte liefert die Bibel, doch lassen sich durch sorgfältige und reflektierte Auslegung Maximen und Kriterien finden, die helfen, menschliches Zusammenleben gedeihen zu lassen, Gerechtigkeit und Frieden zu fördern und zur Bewahrung der natürlichen Mitwelt beizutragen.

Lebenserneuerung ist die Frucht der Gottesbegegnung. Als Vergewisserung, als Erkenntnis und als Orientierung hat sie den ganzen Menschen im Blick, indem sie sein Gefühl, seinen Verstand und seinen Willen anspricht und berührt. Alle kirchlichen Arbeitsfelder sind darauf ausgerichtet, an ihrem Ort und im Rahmen ihrer Möglichkeiten einer biblisch profilierten, ganzheitlichen Lebenserneuerung zu dienen.

"evangelisch Kirche sein" heißt: eine biblisch profilierte Zeitgenossenschaft jenseits von Selbstsäkularisierung und Fundamentalismus zu leben. Im engagierten und offenen Gespräch mit Wissenschaft, Kultur, Wirtschaft, Bildung, Politik nimmt evangelische Kirche in den verschiedenen Feldern zivilgesellschaftlichen Lebens ihre Verantwortung wahr.

3. Gemeinschaft

Im Gottesdienst erfahren Menschen eine Gemeinschaft, in der sich die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes widerspiegelt. Erlebte Gemeinschaft in der Gemeinde verstärkt die christliche Botschaft. Sie "freut sich mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden" (Römer 12,15). Menschen mit ihren unterschiedlichen Gaben und Begabungen werden wahrgenommen und gefördert. Deshalb ringt die Kirche von ihren ersten Tagen an darum, dass die Art des Beisammenseins der Botschaft nicht Hohn spricht, sondern einladend und nicht ausgrenzend, integrierend und nicht marginalisierend ist.

Die Gemeinde ist nicht zuletzt eine Schule der Nächstenliebe über soziale, kulturelle und nationale Grenzen hinweg. Das biblische Bild des Leibes mit seinen vielen Gliedern macht deutlich: Die Gemeinschaft in Christus bedarf der Unterschiedlichkeit, sie fördert die Vielfalt und öffnet sich zugleich für die Gemeinschaft der ganzen Christenheit auf Erden. Sie erträgt die Auseinandersetzung, aber sie erlaubt weder Spaltung noch Zertrennung, weil dies die Beziehung zu dem einen, alle verbindenden Christus und den gemeinsamen Glauben aufs Spiel setzt.

In der Gemeinschaft kommen zusammen: Gemeinsame Teilnahme und gegenseitige Teilgabe an Lebensmöglichkeiten und Glaubenserfahrungen, das heilsame Wort und die helfende Tat, die Zuwendung zum Einzelnen und das Ringen um gerechtere wirtschaftliche und politische Verhältnisse, nachbarschaftliches Engagement und der Blick für die fernen Nächsten. So wie die Güte Gottes allen Menschen gilt bleibt auch der kirchliche Liebesdienst nicht auf den Binnenraum beschränkt, sondern wendet sich an alle, die seiner bedürfen und ihn sich gefallen lassen.

"evangelisch Kirche sein" heißt: als Gemeinschaft die eigene Lehre zu leben, solidarisch zu sein, nach Kräften zu helfen, sich für Menschen einzusetzen und für sie zu beten.

C.

Die Besinnung auf Wesen und Auftrag der Kirche führt in der gegenwärtigen Umbruchzeit zur Konzentration und zur inhaltlichen Profilierung kirchlichen Handelns. Auf der Suche nach geeigneten Strategien und Strukturen gewinnt die Kirche die Freiheit alles zu prüfen, das Gute zu behalten und ihre Gestalt neu zu bestimmen.

Dazu gehören Reformanstrengungen, die

  • die theologische Kompetenz und die geistliche Qualität kirchlichen Handelns schärfen;

  • die Konzentration auf erkennbar geistliche und theologische Handlungsfelder unterstützen

  • die Offenheit und Vielfalt gemeindlicher Angebotsformen erweitern;

  • die Kompetenz in situativen Begegnungsformen mit Glaube und Kirche fördern;

  • die religiöse Bildung in allen Lebensphasen stärken;

  • das diakonische Engagement evangelisch und das evangelische Profil diakonisch schärfen;

  • das Gespräch mit der Christenheit vor Ort und weltweit intensivieren und gemeinsam den konziliaren Prozess beherzt vorantreiben;

  • die Begegnung und die Auseinandersetzung mit anderen Religionen wahrnehmen;

  • den einladenden Charakter der evangelischen Arbeit unterstreichen;

  • die Mitarbeitenden in der Kirche neugierig machen auf die "Fernstehenden" und "Distanzierten";

  • den beteiligungsoffenen Charakter der evangelischen Kirche und ihrer Handlungen fördern.

Diese Reformanstrengungen sind in den Landeskirchen, Kirchenkreisen, Gemeinden sowie Werken und Einrichtungen zahlreich zu finden und ein deutlicher Beleg für die Aufbruchsbereitschaft in der evangelischen Kirche.

Niemand wird jene Reformen für sich allein umsetzen können. Kein Christenmensch, keine Gemeinde, kein Arbeitsbereich, keine Landeskirche lebt isoliert von den anderen und jede Aktivität im Raum der evangelischen Kirche wird dieser insgesamt und allen ihren Teilen zugerechnet. Die Synode der EKD erinnert daran, dass zur geistlichen Verantwortung aller auch die Stärkung der Gemeinsamkeit gehört und warnt vor Selbstgenügsamkeit, die jedes Kirchesein gefährdet. Sie ermutigt dazu, aufeinander zu hören, miteinander zu handeln und füreinander einzustehen. Sie betont die Notwendigkeit, geeignete Wege für ein verbindlicheres Miteinander zu fördern und auszubauen; sie wird sich im Rahmen ihres Auftrages daran engagiert beteiligen.

In der Wahrnehmung ihres Auftrags weiß sich die Kirche durch das Wort des auferstandenen Christus geleitet. Im Vertrauen auf ihn begegnen evangelische Christinnen und Christen einander in Freiheit und gewähren einander Freiheit. Auch bestes menschliches Bemühen ist anfällig für Versagen und Schuld, deshalb bleibt die Kirche der ständigen Erneuerung bedürftig. Sie vertraut auf die Zusage des Auferstandenen: "Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch kommen wird, und werdet meine Zeugen sein." (Apostelgeschichte 1,8)