Ein Tag im Kriegsgebiet

Der Propst von Jerusalem besucht seine Gemeindeglieder

17. Juli 2006


Die Nachrichten aus dem Nahen Osten sind Besorgnis erregend. Viele Menschen in Deutschland denken mit fragen und Sorgen an die Menschen im Noden Israels und im Libanon. Der Propst von Jerusalem, Uwe Gräbe, dessen Gemeindeglieder teilweise in dem Gebiet leben, hat einige dieser Menschen in den letzten Tagen besucht. Hier sein Bericht:

"Selten habe ich es erlebt, dass sich Menschen über den Besuch eines Pfarrers derartig freuen. Im Hintergrund ist das Grollen des israelischen Beschusses im Südlibanon zu hören. Und hier sitzen wir bei Saft und kühlem Wasser, bereit beim nächsten Sirenenalarm in den Bunker zu eilen. Mehrere Katjuscha-Raketen der islamistischen Hizbollah-Miliz sind bereits ganz in der Nähe eingeschlagen. Diese Gegend ganz im Norden Israels ist Kriegsgebiet.

Eine große Anzahl von Deutschen harrt auch unter den gegenwärtigen Bedingungen in dieser Region aus. Vor allem Volontäre finden sich darunter, die für unterschiedliche karitative oder kirchliche Organisationen arbeiten. Manche sind Mitglieder der Deutschsprachigen Evangelischen Gemeinde in Jerusalem. Und als Propst bin ich der für sie zuständige Pfarrer.

Eine eigenartig aufgeladene Stimmung herrscht in diesem Kreis. "Es ist völlig OK, wenn jemand von uns in das sichere Jerusalem abreist", wird mir gesagt. "Niemand wird ihm vorwerfen, er hätte die anderen im Stich gelassen." Und doch scheint die Gruppendynamik stärker zu sein als das, was da so nüchtern ausgesprochen wird. Ich biete allen an, in der Propstei in Jerusalem Unterschlupf zu finden. "Noch nicht heute", wird mir gesagt. "Morgen vielleicht." Einige geben sich betont gelöst, lachen laut. Anderen stehen die Tränen in den Augen. Sieben Sirenenalarme in einer Nacht haben ihre Spuren hinterlassen. Bemerkenswert, wie sachlich und reflektiert die meisten dann doch mit ihrer Situation umgehen.

In Haifa leben zwei Familien, die zur Gemeinde gehören. Als ich mit dem Auto den Stadtrand erreiche, heulen in der Stadt die Sirenen auf. Maximal eine Minute Vorwarnzeit gibt es bis zum Einschlag einer Katjuscha-Rakete, so wird gesagt. Wie sollte ich hier so schnell einen Schutzraum finden? So fahre ich weiter. Kurz darauf ist in einigen hundert Metern Entfernung eine laute Explosion zu hören. Die Druckwelle erlebe ich im Auto wie eine plötzliche, starke Windböe von der Seite.

Die Straßen von Haifa - einer Stadt mit immerhin dreihunderttausend Einwohnern - liegen völlig ausgestorben da. Nur vereinzelt sind Polizeiwagen zu sehen, stets mit Blaulicht. Die geradezu unwirkliche Situation verleitet dazu, zu schnell zu fahren. So, als könnte man auf diese Weise den Raketen entkommen.

Als ich vor dem Haus der Familie ankomme, die ich besuchen möchte, erklingen wieder die Sirenen. Ich laufe rasch in das Gebäude, die Menschen kommen mir entgegengeeilt, und wir verbringen den ersten Teil meines Besuches gemeinsam im Schutzraum. Den Leuten steht der Schlafmangel ins Gesicht geschrieben. Und doch hat sich die Mutter die Zeit genommen, eine Kirschtorte zu backen und Kaffee für den Pfarrer zu kochen. ‚Sie kommen wirklich zu uns, hier her, in dieser Situation?', so fragen sie ungläubig. Nun, wenn von der Kirche niemand zu den Menschen in Not käme, wer sollte dann überhaupt kommen? Der Ehemann ist israelischer Araber. Raketen unterscheiden nun einmal nicht zwischen Juden, Christen und Muslimen.

Einige Stunden später bin ich wieder im sicheren Jerusalem. Hier geht das Leben wie gewohnt seinen Gang. Die Läden sind geöffnet und Touristen bevölkern die Straßen. Am Abend entzündet eine Hochzeitsgesellschaft ein Feuerwerk. Den Knallern und bunten Lichtern am Himmel kann ich jedoch keine rechte Freude abgewinnen.

Und am anderen Tag kommen sie doch an, die jugendlichen Volontäre aus dem Norden, denen ich hier in der Propstei Unterschlupf angeboten habe. Sie sind froh über diese Pause vom Krieg. Ich rufe meine E-Mails ab und lese die Nachrichten meines Kollegen aus Beirut, der in ungleich schwierigeren Umständen versucht, den Menschen im Libanon zur Seite zu stehen. Die materiellen Schäden wie auch die Schäden an Leib und Seele der Menschen sind unübersehbar. Aber es ist gut, wenn die Kirche da ist, wo Opfer dieser unsinnigen Auseinandersetzung sind. Und es tut gut zu wissen, dass die Geschwister in Deutschland und in der Welt für uns beten.

Internationale Verhandlungsangebote annehmen

Spirale der Gewalt aufhalten

Der Nahe Osten erlebt in diesen Tagen eine erschreckende Eskalation der Gewalt. Die Zahl der zivilen Opfer, auch von Frauen und Kindern wächst täglich. Viele Menschen sind durch die Gewalttaten auf beiden Seiten an Leib und Leben gefährdet. Über alle Grenzen hinweg, beten die evangelischen Christen in Deutschland dafür, dass die Waffen schweigen und die Menschen im Libanon und in Israel sicher leben und arbeiten können.

Auch Mitglieder, Freunde und einheimische Partner der EKD-Auslandsgemeinden und der kirchlichen Einrichtungen im Libanon wie im Norden Israels müssen um ihr Leben fürchten. Auf unterschiedlichen Wegen suchen sie Schutz vor den Angriffen und versuchen trotzdem ihren Aufgaben und ihrer Arbeit nachzukommen. So nehmen die Kirchengemeinden in Beirut, Jerusalem und Damaskus Flüchtlinge auf, organisieren Transporte, sorgen für den Informationsfluss in der deutschen Gemeinschaft und geben pastorale Hilfe und Beratung in einer äußerst angespannten Lage. Das Kirchenamt der EKD versucht mit ihren Partnern auf beiden Seiten des Konflikts regelmäßig Kontakt zu halten.

Die Entführungen und Raketenangriffe auf zivile Ziele in Israel und die Zerstörung der Infrastruktur im Libanon und im Gazastreifen haben eine Spirale der Gewalt in Gang gesetzt, die zur Destabilisierung der gesamten Region führen kann und die demokratischen Kräfte weiter schwächt. Schon jetzt ist zu befürchten, dass die Hoffnungen, die viele mit dem Abzug Israels aus dem Gazastreifen, der Wahl in Palästina und dem Abzug Syriens aus dem Libanon verbunden hatten, zerstört sind.

Die EKD ruft alle beteiligten Parteien im Nahen Osten dazu auf, die internationalen Vermittlungsangebote anzunehmen und erneut die Verhandlungen aufzugreifen und fortzusetzen. Die EKD unterstützt die demokratischen Kräfte in Israel wie im Libanon, genauso wie in Ägypten und Jordanien, die sich für den Weg der Verständigung einsetzen. Gemeinsam mit ihnen erinnert die EKD, dass auch auf der jeweils anderen Seite der militärischen Konfrontation Menschen stehen, die von der Sehnsucht nach Frieden, nach Sicherheit und Gerechtigkeit geprägt sind.

Die EKD-Auslandsgemeinden in der gesamten Region bieten Räume für Begegnung und Gespräche. In diesen Räumen kann die Sprachlosigkeit überwunden werden, die der Krieg mit sich führt. Gemeinsam mit anderen Organisationen bieten sie Flüchtlingen Schutz. Seit den ersten Tagen des Krieges sind sie darüber hinaus über alle Grenzen hinweg in Gebet und Fürbitte verbunden.