60 Jahre Stuttgarter Schuldbekenntnis

Schuld bekennen – nicht vergessen

17. Oktober 2005


Auf halber Höhe über der Stadt steht die Markuskirche: Heute zwischen den Bäumen, die dort gewachsen sind, und den wieder aufgebauten Häusern, gab sie vor 60 Jahren den Blick auf die Stuttgarter Innenstadt frei: Von oben war zu sehen, welche Spuren der Krieg in zahlreichen europäischen Städten hinterlassen hat: Bombenkrater, Häuserruinen, einstürzende Gebäude. Gerade mal fünf Monate war in diesen Oktobertagen 1945 der Krieg zu Ende. Die in Stuttgart versammelten Mitglieder des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) formulierten, was damals nicht jeder denken wollte: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden.“ Dem Bekenntnis, „nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt zu haben“, folgte der Wunsch, den Neuanfang in ökumenischer Gemeinschaft mit den anderen Kirchen machen zu können.

Vertreter der ökumenischen Bewegung – allen voran der damalige Generalsekretär des Ökumenischen Rates, der Holländer Wille Visser t’Hooft – waren der Einladung nach Stuttgart gefolgt und hörten die Schulderklärung der führenden Männer aus der EKD. Wer Schuld bekennt, macht einen Neuanfang möglich. Das Stuttgarter Schuldbekenntnis ist bis heute die Einladung, Schuld zu bekennen, sie aber nicht zu vergessen.

So positiv die Gäste aus der weltweiten Ökumene die Schulderklärung aufnahmen, so kritisch wurde sie innerhalb der Kirche und innerhalb Deutschlands gesehen: Sofort wurde die Stuttgarter Schulderklärung in der deutschen Öffentlichkeit im Sinne einer politischen Anerkennung der Kollektivschuld missverstanden. Man warf den Kirchenvertretern vor, sie würden zu sehr die eigene und zu wenig die Schuld der anderen betonen. Damals haben die Vertreter des Rates nicht Schuld gesammelt und über dem Volk ausgeschüttet, sondern sie haben die Schuld erkannt, sie bekannt – auch ihre eigene. Kirche wird immer wieder die Schuld ansprechen und bekennen – die Schuld in der Vergangenheit und die Schuld in der Gegenwart. Sie wird dies machen, wenn sie sieht, dass die Gleichheit der Menschen vergessen, die Verletzung der Gerechtigkeit verschwiegen, die königliche Freiheit der Kinder Gottes verachtet wurde oder wird. Sie kann dies tun, weil sie weiß, dass auch sie selbst nicht fehlerlos und heilig ist, sondern von der Barmherzigkeit Gottes lebt.

Es tut gut am Ende dieses Jahres voller Erinnerungen an Tage, die vor 60 Jahre die letzten Toten des Krieges, die Befreiung der Konzentrationslager, das Ende des Krieges markiert haben, sich auch daran zu erinnern, dass die, die versucht haben, aus den Trümmern wieder eine evangelische Kirchengemeinschaft gebaut haben, festgestellt haben, „nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt zu haben“ – vor 60 Jahren in der Stuttgarter Markuskirche auf halber Höhe über der zerstörten Innenstadt.

Stuttgarter Schulderklärung

Beitrag des EKD-Ratsvorsitzenden im Magazin "Chrismon"

Medienberichte zur Stuttgarter Schulderklärung

Evangelische Landeskirche in Württemberg zur Stuttgarter Schulderklärung