Stuttgarter Schulderklärung vom 19. Oktober 1945

Texte zum Thema aus verschiedenen Medien

14. Oktober 2005


GESCHICHTE / Wie sich die Evangelische Kirche in Deutschland 1945 der Frage nach der eigenen Schuld stellte

Die Stimme des Gewissens

Das Dokument war ursprünglich nicht für eine breite Öffentlichkeit gedacht. Doch bald gab es große Resonanz auf die Stuttgarter Erklärung.

ANDREAS MEIER

Vor sechzig Jahren, fünf Monate nach Kriegsende, waren in Deutschland, einer Trümmerlandschaft in jeder Hinsicht, die Kirchen allein einigermaßen unbelastete Gesprächspartner der Alliierten. Im August 1945 hatten die evangelischen Kirchen sich in Treysa in einem Zwölferrat vorläufig eine Leitung gewählt. Die in der Zeit der NS-Diktatur in Gruppierungen zerfallenen evangelischen Kirchen hofften, später eine Gesamtkirche zu bilden. Im Oktober 1945 tat der Rat in Stuttgart einen Schritt zur Gründung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD): Er empfing sieben Vertreter des Ökumenischen Rates der Kirchen.

Einzigartig und unvorstellbar war in jenem Jahr ein freundschaftliches Treffen Deutscher daheim mit Menschen aus Ländern, in denen deutsche Besatzer gewütet hatten. „Wir sind gekommen, um euch zu bitten, dass ihr uns helft, euch zu helfen“ – diese Worte Pierre Maurys von der Reformierten Kirche Frankreichs an den Rat machen den Charakter der Begegnung deutlich.

Der Rat tagte am Donnerstag, den 18.Oktober von neun Uhr morgens an im Haus der Bibelgesellschaft. Danach empfing der US-Militärkommandant in Stuttgart den Rat und die ökumenischen Delegierten. Um 16 Uhr begann die gemeinsame Sitzung der beiden Gremien. Auch der Ökumenische Rat war ein Provisorium, seit 1937. Der Krieg hatte die ökumenische Mitarbeit deutscher evangelischer Christen unterbrochen. 1948 gründeten sich dann nacheinander die EKD und der Ökumenische Rat der Kirchen.

In Stuttgart wussten alle Anwesenden und spürten es: Zwischen den Deutschen und den Besuchern stand die unermessliche Schuld der Deutschen. Pastor Hans Asmussen ergriff als Erster das Wort: „Alles, was sich mein Volk zuschulden kommen ließ, tat mein Fleisch und Blut. Ich bitte euch: Vergebt mir! Ich habe an euch gesündigt.“

Häftling im KZ

Pastor Martin Niemöller, der viele Jahre als Häftling im KZ verbringen musste und wie sein Vorredner aus der Bekennenden Kirche kam, bat seinerseits um Verzeihung: „Liebe Brüder von der Ökumene, wir wissen, dass wir mit unserem Volk einen verkehrten Weg gegangen sind, der uns als Kirche mitschuldig gemacht hat an dem Schicksal der ganzen Welt. Wir werden die Schuld auf lange Sicht hin tragen.“

Dankbar baten Hendrik Kramer aus Holland und Alphons Koechlin aus der Schweiz, diese Worte als Bekenntnis der Kirche ihren kritischen Landsleuten mitbringen zu dürfen: „Wir erhoffen von dieser Zusammenkunft, dass wir in voller Freiheit das mitnehmen, was wir gehört haben, dass nämlich eure Stimme auch die Stimme des Gewissens der evangelischen Kirche in Deutschland ist.“

Seit Wochen hatte die Rechenschaft über die eigene Schuld und Mitschuld viele Christen in Deutschland gequält und manche zu vorschnellen Folgerungen verleitet. Beredsam wurde in vielen Predigten versucht, im politischen Geschehen aufzuzeigen, „was Gott mit uns vorhat“. Pfarrer Gottlieb Funcke aus Münster etwa begehrte gegen den Verlust „unserer Ehre“ auf, ohne „die unerhörten Grausamkeiten gegen deutsche, polnische und vor allem jüdische Menschen“ zu leugnen: „Indem wir sie duldeten, sind wir mehr oder minder mitschuldig geworden.“

Nach dem Essen machten sich die Ratsmitglieder an die Arbeit. Sie vereinbarten grundsätzlich, auf aktuelle Nachrichten über Brutalitäten an deutschen Flüchtlingen nicht durch Auflistung der Untaten einzugehen, sondern vor Gott die eigene Schuld zu bekennen. Zur Grundlage ihrer Erklärung machten sie den Entwurf des Berliner Bischofs Otto Dibelius, den sie überarbeiteten. Um 22.30 Uhr war das Gemeinschaftswerk abgeschlossen.

Sorge um Missdeutung

„Wir sagen es Ihnen, weil wir es Gott sagen. Tun Sie das Ihrige, dass diese Erklärung nicht politisch missbraucht wird, sondern dem dient, was wir gemeinsam wollen.“ So eröffnete Pastor Hans Asmussen am nächsten Morgen die Verlesung der Schulderklärung des Rates an die ökumenischen Delegierten. Die Auflistung der Mängel im Gebet, im Glauben und in der Liebe erzwingt wegen der ungeschickten Formulierung den Einwand, dass die Schuld vor Gott quantitativ gemessen werden kann. Schwerwiegender ist der Verzicht auf eine klarstellende Überschrift.

Die Ernsthaftigkeit des Schuldbekenntnisses steht außer Frage. Keiner der Autoren rückte von dieser kirchlichen Einheit je ab. Asmussen verwies auf die Unsicherheit der Autoren, die später zu widersprüchlichen Interpretationen führte, als er vor politischem Missbrauch warnte. Vielen Autoren lag gar nicht daran, dass der Text in die Öffentlichkeit kam. Sollte es nun als Bekenntnis ein Teil des Gottesdienstes oder eine Erklärung sein?

Der Rat selbst kümmerte sich nicht um die Verbreitung des Textes. Gesetze der Öffentlichkeitsarbeit waren ihm verständlicherweise fremd, der Text kam eher zufällig in die Hände von Journalisten, die ihn unverstanden unter reißerischen Überschriften veröffentlichten, als hätte die EKD die politische Kollektivschuld Deutschlands erklärt. „Der, dem das Wort Gottes fremd ist, muss es notwendig missdeuten, ob Feind oder Freund.“ Auf diese Warnung aus Detmold hätte gehört werden sollen, indem der Text in einer Pressekonferenz vorgestellt worden wäre.

Die katholischen Bischöfe hatten in ihrem Fuldaer Hirtenbrief im August 1945 beklagt, dass „viele Deutsche, auch aus unseren Reihen“ sich an den Verbrechen beteiligten. Es gelte nun, „Schuldige und Unschuldige“ zu unterscheiden.

Der Rat der EKD bekannte in Stuttgart protestantisch eindeutig die Schuld der Kirche. Aber auch um die innerkirchliche Öffentlichkeitsarbeit kümmerte er sich nicht. Keine erläuternde Handreichung half den Gemeinden, um in das Bekenntnis im Gottesdienst einzustimmen.

Weniger bekannt ist eine Erklärung, die die Synode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Oldenburg am Schluss der ersten Nachkriegstagung (23.–26.Oktober 1945) als „Wort an die Gemeinden“ vorlegte. So setzt dieses Bekenntnis ein:

„Der ungeheuerliche Versuch, ein ,ewiges’ Deutsches Reich zu schaffen und es im Kampf gegen Gott und die ganze Welt durchzusetzen, ist zusammengebrochen. Die Folgen dieses Aufstandes gegen Gott stehen vor unser aller Augen. Wir erleiden sie täglich. Groß ist die Schuld vor Menschen, aber größer ist die Schuld vor Gott. Es hilft uns nichts, wenn wir uns darauf berufen, dass auch andere Völker Schuld tragen. Vor Gott hilft kein Vergleich mit anderen Menschen. Wir haben uns verleiten lassen, neben dem lebendigen Gott andere Götter zu verehren. Darum konnten in unserem Land Menschen glauben, sie seien wie Gott.“

Ein Kurier aus Stuttgart war am 25.Oktober in die Synode mit einem Exemplar der Stuttgarter Erklärung hineingeplatzt. Tags drauf kam George Bell, Lordbischof von Chicester, ein Mitglied der ökumenischen Delegation, nach Oldenburg. Das beflügelte die Arbeit des Vorbereitungsausschusses, der an der Erklärung arbeitete. Vom juristischen Oberkirchenrat Hermann Ehlers, dem späteren Bundestagspräsidenten, stammt der Grundriss.

Gegen das erste Gebot

Auch die Oldenburger Synode stellte sich in die Solidarität der Schuld. Von den Verstößen gegen das erste Gebot, „wie Gott“ sein zu wollen, wird übergeleitet zu den Verfehlungen der Kirche: „Wir haben es zugelassen, dass denen, die auch unsere Nächsten waren, politisch Missliebigen und Juden, Gut und Brot genommen wurde, und haben wohl selbst daran teilgehabt.“ Am Buß- und Bettag oder Totensonntag wurde das „Wort“ in den Gemeinden verlesen.

Evangelische Christen bekannten in Stuttgart und Oldenburg ihre Schuld, ohne sich hinter der Auflistung von Untaten zu verstecken oder Anklagen zu erheben. Seitdem wird in Kirche und Politik eilfertig von Schuld geredet und Schuld persönlich „bekannt“, um politische Gegner zu verteufeln.

Zur Nächstenliebe befreiten die Schuldbekenntnisse von 1945 als Eingeständnis: „Das Gute, das ich will, das tue ich nicht, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich“ (Römer 7,19).

Quelle: Rheinischer Merkur vom 13. Oktober

"Wir klagen uns an" - Vor 60 Jahren gab die Evangelische Kirche in Deutschland die Stuttgarter Schulderklärung ab

Von Michael Grau

Hannover/Stuttgart (epd). Am Nachmittag des 16. Oktober 1945 ratterte ein Lastwagen der französischen Besatzungsarmee ins zerbombte Stuttgart. Die Insassen, die ihr Quartier im Hotel "Graf Zeppelin" am Hauptbahnhof bezogen, waren hochrangige Kirchenvertreter aus Ländern, gegen die Deutschland noch ein halbes Jahr zuvor Krieg geführt hatte: aus Frankreich, den USA oder den Niederlanden. Sie kamen mit einer sensiblen Aufgabe: die Verbindung zum Rat der gerade gegründeten Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) aufzunehmen.

Ihr Besuch vor 60 Jahren wurde zum Anlass für eines der wichtigsten Dokumente in der Geschichte der EKD: die Stuttgarter Schulderklärung. Der Theologe Hans Asmussen (1898-1968) verlas sie am Vormittag des 19. Oktober 1945 in einem Saal der bombengeschädigten Württembergischen Bibelanstalt. Die Kernsätze: "Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. ... Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben."

Damit bezeugten deutsche Kirchenmänner fünf Monate nach Kriegsende stellvertretend für das ganze deutsche Volk ihre Mitverantwortung für die Verbrechen des Nazi-Regimes. Der Politik-Professor Joachim Perels aus Hannover, Sohn des von den Nazis ermordeten Juristen und Widerstandskämpfers Friedrich Justus Perels (1910-1945), betont die "epochale Bedeutung" der Erklärung: "Das war ein gewaltiger Schritt gemessen an dem, was man erwarten konnte. Denn die deutsche Gesellschaft ließ das Thema Kriegsschuld nicht an sich herankommen und schob es weg."

Eine knisternde Spannung hatte über dem Treffen in Stuttgart gelegen. Denn die Ökumene-Gäste erwarteten zwar eine Äußerung der Protestanten gegenüber dem NS-Regime, wollten sie aber nicht offen fordern. Auf der anderen Seite erwogen einige der deutschen Kirchenmänner von sich aus ein Schuldbekenntnis. "Die deutsche Kirche soll bekennen und mit ihr das deutsche Volk, dass es gesündigt hat vor Gott", sagte der stellvertretende EKD-Ratsvorsitzende und ehemalige KZ-Häftling Martin Niemöller (1892-1984) in Stuttgart.

Der Rat, zu dem auch der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann (1899-1976) gehörte, folgte einem Entwurf des Berliner Bischofs Otto Dibelius (1880-1967) und ergänzte ihn durch Formulierungen von Asmussen und Niemöller. Der Politologe Perels hebt hervor, dass die Erklärung nicht Schuld mit der Gegenschuld der früheren Kriegsgegner aufrechne: "Hier wurde eigene Schuld ausgesprochen und nicht nur ein Vergleich." Zugleich sei die evangelische Kirche "über ihren nationalistischen Schatten gesprungen". Denn traditionell waren Protestantismus und deutschnationale Gesinnung nahezu identisch.

Kritiker haben immer wieder eingewandt, dass die Stuttgarter Erklärung die Schuld nicht konkret beim Namen nenne. "Der Blick auf Israel fehlt, das Massenmorden der Deutschen wird nicht zum Thema", sagt der Kirchenhistoriker Siegfried Hermle (Köln). Verzögert gelangte das EKD-Dokument in die Öffentlichkeit. "Evangelische Kirche bekennt Deutschlands Kriegsschuld", titelte der "Kieler Kurier" acht Tage später.

Das Echo war verheerend, es hagelte Proteste. Weite Teile der Bevölkerung und auch der Kirche wollten von Kriegsschuld nichts wissen. Einige Ratsmitglieder wie der hannoversche Bischof Hanns Lilje (1899-1977) schwächten die Erklärung daraufhin ab: "Sie ist keine politische, sondern eine kirchliche Erklärung."

Im Ausland dagegen wurde das Kirchenwort positiv aufgenommen. Nicht zuletzt ebnete es den Weg für Hilfslieferungen vor allem aus den USA. "Das Stuttgarter Schuldbekenntnis bahnte den deutschen Protestanten den Weg zurück in die weltweite Christenheit", sagt der Münchner Kirchenhistoriker Harry Oelke.

Quelle: Evangelischer Pressedienst (epd) vom 13. Oktober 2005

Das aktuelle Stichwort: Stuttgarter Schulderklärung

Hannover/Stuttgart (epd). Mit der Stuttgarter Schulderklärung bekannte die Evangelische Kirche in Deutschland am 19. Oktober 1945 stellvertretend für das deutsche Volk ihre Mitverantwortung für die Verbrechen des Nazi-Regimes. Anlass war ein Besuch einer Delegation des vorläufigen Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) unter Leitung von Generalsekretär Willem Adolf Visser't Hooft (1900-1985). Die Delegation lud die erst wenige Wochen zuvor gegründete EKD daraufhin ein, Mitglied im ÖRK zu werden.

Die Kernsätze der Erklärung lauten: "Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. ... Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben." Der Theologe Hans Asmussen (1898-1968) verlas die auf einer abgenutzten Schreibmaschine getippte DIN-A4-Seite in einem Saal der bombengeschädigten Württembergischen Bibelanstalt.

Unterzeichnet ist die Erklärung von elf Ratsmitgliedern, unter ihnen der Ratsvorsitzende und württembergische Bischof Theophil Wurm (1868-1953), sein Stellvertreter Martin Niemöller (1892-1984) und der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann (1899-1976). Der Rat folgte einem Textentwurf des Berliner Bischofs Otto Dibelius (1880-1967) und ergänzte ihn durch Formulierungen von Asmussen und Niemöller. Vorausgegangen waren mündliche Schuldbekenntnisse von Asmussen, Niemöller und dem Ratsmitglied Wilhelm Niesel (1903-1988) in Gegenwart der ökumenischen Gäste.

Das Schuldbekenntnis löste ein geteiltes Echo aus. Im Ausland wurde es begrüßt und ermöglichte eine Flut von Spenden vor allem aus den USA. In Deutschland dagegen stieß es auf Kritik, weil die EKD eine Kollektivschuld der Deutschen eingeräumt habe. Historiker weisen darauf hin, dass die Schulderklärung den deutschen Protestanten nach dem Debakel der NS-Zeit den Weg zurück in die weltweite Christenheit gebahnt habe.

Quelle: Evangelischer Pressedienst (epd) vom 13. Oktober 2005