Kundgebung: Frei und engagiert - in Christus Christlicher Glaube in offener Gesellschaft

2. Tagung der 12. Synode der EKD, 8. bis 11. November 2015 Bremen

11. November 2015


Kundgebung

der 12. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland

auf ihrer 2. Tagung


Frei und engagiert – in Christus
Christlicher Glaube in offener Gesellschaft


Angesichts des 500-jährigen Jubiläums der Reformation hebt die Synode der EKD den Beitrag des Protestantismus für eine offene Gesellschaft hervor.

Frei

Die Reformation ist ein Schlüsselereignis der Geschichte Europas. Weltweit sind ihre Auswirkungen bis in die Gegenwart über den Bereich der Kirchen hinaus zu erkennen, weltweit wird sie gefeiert.

Reformatorische Anliegen wurden in der kritischen Auseinandersetzung mit der spätmittelalterlichen katholischen Kirche formuliert. Über die Jahrhunderte ist jedoch ein hohes Maß an Gemeinsamkeit in Lehre und Glaubensleben entstanden. Im Rückblick ist zu würdigen, dass die konfessionelle Konkurrenz eine bedeutende kulturgeschichtliche Wirkung entfaltet hat. All das hat zur Ausbildung und Ausdifferenzierung offener Gesellschaften beigetragen.

Der heutige Religionspluralismus ist im Laufe einer konfliktreichen Geschichte entstanden. Alle Kirchen mussten lernen, was Toleranz heißt: nämlich diejenigen zu akzeptieren, deren Überzeugungen man nicht teilt. Der Protestantismus bejaht heute die Religionsfreiheit aller, auch derer, die jede Religion ablehnen.

Martin Luther hat in seiner Schrift "Von der Freiheit eines Christenmenschen" christliche Existenz in zwei Sätzen zusammengefasst: "Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan." Diese zwei Sätze sagen, dass der christliche Glaube für Freiheit und Engagement steht. Denn wer auf Gottes barmherzige Zuwendung vertraut, muss sich nicht mehr von den eigenen Sorgen einfangen lassen. Solche Unabhängigkeit macht dankbar und motiviert zu Engagement und zur Zuwendung zum Mitmenschen.

Der Protestantismus bezieht den Glauben auf das ganze Leben. Christinnen und Christen folgen in Familie, Beruf und gesellschaftlicher Verantwortung dem Auftrag des Evangeliums. Ausdrücklich werden wir zur Übernahme von Verantwortung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ermutigt.

Deshalb treten evangelische Menschen für die Schwachen und Verfolgten ein, ringen um die uneingeschränkte Würde am Lebensende, sorgen sich um einen gerechten Frieden und setzen sich ein für Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung.

Bildung war ein elementares Anliegen aller Reformatoren. Weil für sie der Glaube aus dem Hören von Gottes Wort kam, bemühten sie sich um eine Vermittlung des elementaren Glaubenswissens; Glaube war für sie gebildeter, um Verstehen bemühter, mündiger Glaube. Das Hören auf die Bibel hat Konsequenzen für das Engagement in der Gesellschaft.


Engagiert

Der Beitrag des christlichen Glaubens für das Gemeinwesen ist unverzichtbar:

  • Christlicher Glaube ermutigt Menschen, sich zu engagieren. Dieses wird besonders deutlich im Einsatz für Bildung und Kultur, im diakonischen Handeln und in der Aufmerksamkeit für gesellschaftliche Konfliktthemen.
  • Der christliche Glaube vermag sozialen Protest zu mobilisieren und Widerstand gegen Unrecht, Ungleichheit oder Rassismus zu wecken. Er ermutigt Menschen, sich nicht mit den Gegebenheiten abzufinden.
  • Die christliche Hoffnung hilft, Grenzen zwischen Interessengruppen und unterschiedlichen Milieus zu überwinden. Sie hilft, Fremden mit Empathie zu begegnen und soziale Spaltungen kritisch in den Blick zu nehmen. Angesichts der Liebe Gottes werden die Unterschiede zwischen den Menschen unwichtig.
  • Die Kirchengemeinden bilden ein dicht geknüpftes Netz öffentlicher Orte. Sie pflegen den Rhythmus von Ruhe und Arbeit, Sonn- und Werktagen in der Gesellschaft. Im Sozialraum sind Kirchengemeinden Teil der Bürgergesellschaft und unterstützen das Gemeinwesen z.B. durch diakonische Einrichtungen und Kindertagesstätten
  • Die Sichtweise des christlichen Glaubens ist in Ethikräten, staatlichen Kommissionen, in Diskussionssendungen und an vielen anderen Orten gefragt. Denn die Perspektive einer aufgeklärten und diskursfähigen Religion trägt zur Orientierung bei und ist unverzichtbar für einen umfassenden Austausch über ethische Fragestellungen.
  • Christliche Rituale tragen Menschen im Leben und auch bei Katastrophen und Unfällen. Die Sprache des Glaubens ermöglicht es der Gesellschaft, gemeinsam Trauer auszudrücken und Schrecken zu verarbeiten.

Es gibt gegenwärtig Tendenzen, den Wert der Religionen für die Gesellschaft zu bestreiten. Dagegen halten wir fest: Die freie Ausübung der Religion ist ein Menschenrecht. Es ist eine Stärke und keine Schwäche der modernen Gesellschaft, wenn sie von den Religionsgemeinschaften mitgestaltet wird.
Wo allerdings Religion missbraucht wird, treten wir dem entschieden entgegen.

In Christus

Die Kirchen verstehen Jesus Christus als Grundlage und Orientierung. Weil die Reformatoren Christus erneut ins Zentrum des Glaubens rückten, feiern die Kirchen das Reformationsjubiläum 2017 als gemeinsames Christusfest.

Die evangelische Kirche äußert sich zu aktuellen Fragen und Herausforderungen. Manche dieser vielfältigen Äußerungen wecken Widerspruch innerhalb wie außerhalb der Kirche. Es ist die Stärke der aus dem Geist der Reformation hervorgegangenen Kirchen, dass sie eine Vielzahl von Positionen entfalten können. In dieser Fähigkeit zum Umgang mit Pluralität erweisen sie sich als evangelische Kirche in zeitgemäßer Gestalt.

Christinnen und Christen schöpfen aus den Erfahrungen und Zeugnissen der Mütter und Väter im Glauben neue Kraft. Es ist ihre Aufgabe, diesen Schatz, der im Gespräch unter-einander mit den biblischen Texten gewonnen wird, in der Gegenwart lebendig zu halten. In ihrem gesellschaftlichen Engagement verweisen Christinnen und Christen auf etwas, das größer ist als sie selbst und sie trägt: Gott, der uns geschaffen hat und in seiner Barmherzigkeit Mensch geworden ist, befreit uns. Er schenkt uns durch seinen Geist die Kraft zur Barmherzigkeit in der Welt.

Das freie und engagierte Zeugnis des Glaubens ist der Beitrag der Christinnen und Christen in einer offenen Gesellschaft.


Bremen, den 11. November 2015

Die Präses der Synode
der Evangelischen Kirche in Deutschland

Dr. Irmgard Schwaetzer