Mit Spannungen leben

Eine Orientierungshilfe des Rates der EKD zum Thema "Homosexualität und Kirche", Heft 57 der "EKD-Texte"

14. März 1996

"Homosexualität und Kirche" ist seit einigen Jahren in Gemeinden, Synoden und Kirchenleitungen zu einem Konfliktthema geworden. Das rührt auch daher, dass homosexuelle Menschen verstärkt ihre rechtliche und gesellschaftliche Anerkennung sowie den Abbau von Diskriminierungen fordern. So sehr der Gefahr zu wehren ist, dass die Tagesordnung der Kirchen von Konfliktthemen dieser Art bestimmt wird - es lässt sich nicht verkennen, dass es hier auch um Grundfragen des christlichen Glaubens und der christlichen Lebensführung wie der Auslegung der Bibel und des kirchlichen Bekenntnisses geht. Infolgedessen wird die Debatte mit großem Engagement, gelegentlich sogar mit erheblicher Schärfe geführt. Das mag auch damit zusammenhängen, dass bei diesem Thema Tabus angesprochen und eigene Gefühle und Ängste wachgerufen werden.

Um angesichts dieser Herausforderung innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland zu einer sachlichen Klärung zu finden, hat der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland im März 1994 eine ad-hoc-Kommission "Homosexualität" eingesetzt. Sie hat sich zwei Jahre lang intensiv mit den verschiedenen Aspekten des Themas beschäftigt und nach einem teilweise zähen Ringen zwischen sehr kontroversen Positionen als Ergebnis ihrer Arbeit eine "Orientierungshilfe" vorgelegt, die sich der Rat der EKD als seinen Beitrag zur gegenwärtigen Diskussion zu eigen gemacht hat.

Die Orientierungshilfe bemüht sich, die divergierenden Anliegen der an der Debatte Beteiligten ernst zu nehmen und sorgfältig zu prüfen, und entwickelt ihre Sichtweise in sechs Kapiteln. Dass es zu dieser Thematik keine einfache Lösung gibt, wird schon im Titel angedeutet: "Mit Spannungen leben".

Den Ausgangspunkt der Überlegungen bietet eine kurze Darstellung der gegenwärtigen Standpunkte und Argumentationen zum Thema "Homosexualität" in Gesellschaft, Kirche und Wissenschaft [Kapitel 1]. Diese Übersicht verdeutlicht, wie facettenreich das Problem gesehen werden muss und wie viele Fragen einer Klärung bedürfen. Deswegen fordert die Orientierungshilfe, das Thema "Homosexualität" so differenziert wie möglich zu untersuchen und Strittiges nicht als bereits entschieden vorauszusetzen. Im Blick auf die humanwissenschaftlichen Forschungsergebnisse wird festgestellt, dass von einem Konsens oder von allgemein anerkannten Theorien an kaum einem Punkt die Rede sein kann. Geändert hat sich jedoch weitgehend die wissenschaftliche Sichtweise und die daraus resultierende Bewertung der Homosexualität. Um so mehr gilt, dass in der Kirche die entscheidende Argumentation theologisch geführt werden muss.

Zwei grundlegende Kapitel markieren die Kriterien der theologischen Argumentation. In einem ersten Schritt werden die biblischen Aussagen zu Sexualität und Homosexualität [Kapitel 2] einer gründlichen Prüfung unterzogen. Es zeigt sich, dass es keine biblischen Aussagen gibt, die Homosexualität in eine positive Beziehung zum Willen Gottes setzen. Homosexuelle Praxis als solche wird - in Übereinstimmung mit den allgemeinen biblischen Aussagen zum Menschenbild und zur Sexualität - als dem ursprünglichen Schöpferwillen Gottes widersprechend qualifiziert.

Angesichts der zentralen Stellung, die das Liebesgebot in der Heiligen Schrift hat, darf jedoch auch homosexuelles Zusammenleben nicht von seiner Geltung ausgenommen werden. Das heißt: Der im Liebesgebot ausgesprochene Wille Gottes gilt auch für die ethisch verantwortete Gestaltung homosexuellen Zusammenlebens. Das zuletzt Gesagte hebt jedoch den biblischen Widerspruch gegen homosexuelle Praxis nicht auf. Die damit gegebene Spannung muss deshalb ausgehalten werden.

In einem zweiten Schritt werden die Aussagen über die Formen des Zusammenlebens in Schrift, Bekenntnis und gegenwärtiger Lehre [Kapitel 3] bedacht. Insbesondere das Entstehen neuer Formen des Zusammenlebens in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation fordert zu einer ethischen Bewertung heraus: Müssen alle Formen des Zusammenlebens als gleichrangig beurteilt werden, oder gibt es zwischen ihnen qualitative Unterschiede? Die Orientierungshilfe kommt zu dem Ergebnis, dass aus der Sicht des christlichen Glaubens Ehe und Familie die sozialen Leitbilder für das Zusammenleben von Menschen unter dem Aspekt der Sexualität und Generativität sind. Die Institutionen Ehe und Familie kommen aber nur für heterosexuell ausgerichtete Menschen in Betracht. Für Menschen, die homosexuell geprägt sind, bedeutet dies, dass Ehe und Familie für sie keine Leitbilder sein können und dürfen. Denjenigen, denen es nicht gegeben ist, sexuell enthaltsam zu leben, rät die Orientierungshilfe zu einer vom Liebesgebot her gestalteten und damit ethisch verantworteten gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft. Die Kriterien, die dafür gelten, sind - mit einer wesentlichen Ausnahme - dieselben, die für Ehe und Familie maßgebend sind: Freiwilligkeit, Ganzheitlichkeit, Verbindlichkeit, Dauer und Partnerschaftlichkeit. Die eine wesentliche Ausnahme betrifft die Funktion von Ehe und Familie als Lebensraum für die Geburt und Erziehung von Kindern.

Von diesem doppelten Ansatzpunkt aus werden im folgenden Einzelfragen in Angriff genommen:

  • Was bedeutet homosexuelle Prägung [Kapitel 4]? Die Orientierungshilfe beschreibt die beiden miteinander unvereinbaren Positionen in Gesellschaft und Kirche, die in der Homosexualität eine unveränderbare bzw. eine korrigierbare Prägung sehen. Sie selbst plädiert dafür: Homosexuelle Menschen, die ihre eigene Prägung entweder als unveränderbare Veranlagung oder als lebensgeschichtlich entstandene Entwicklungsstörung wahrnehmen und verstehen, können sich gegenseitig in ihren jeweiligen Selbstwahrnehmungen und Selbstdeutungen freigeben und akzeptieren, ohne auf einer einheitlichen, für alle gültigen Sicht beharren zu müssen. Die anderen Mitglieder der Kirchen können und müssen die Wahl der einen oder der anderen Sichtweise der Selbstprüfung und Gewissensentscheidung jedes einzelnen überlassen. Sie müssen aber auf jeden Fall, wo dies nötig ist, für den Schutz und die Respektierung solcher Gewissensentscheidungen eintreten.

  • Können homosexuell lebende Menschen ein Pfarramt bekleiden [Kapitel 5]? Die Orientierungshilfe kommt aufgrund ihrer Ausgangsüberlegungen zu dem Ergebnis, dass eine generelle Öffnung des Pfarramtes für homosexuell lebende Menschen nicht vertretbar ist. Wohl aber kann verantwortet werden, dies nach gründlicher Prüfung in Einzelfällen zu tun, nämlich dort, wo die homosexuelle Lebensweise ethisch verantwortlich gestaltet wird und wo folgende Verträglichkeitskriterien erfüllt sind:


     - Die Vereinbarkeit mit Intimität und Taktgefühl. Das bedeutet auch den Verzicht darauf, das eigene Sexualleben durch Verhalten oder Worte zu einem Inhalt der Verkündigung zu machen.

    Die Vereinbarkeit mit Bekenntnis und Lehre der Kirche. Das bedeutet auch die Anerkennung der Begrenztheit der homosexuellen Lebensweise gegenüber den Leitbildern von Ehe und Familie.

    Die Vereinbarkeit mit dem innerkirchlichen und dem ökumenischen Kontext. Das bedeutet das Erfordernis der einmütigen Zustimmung aller innerkirchlichen Entscheidungsgremien und die Notwendigkeit seitens der Kirchenleitungen, in dieser Frage das Gespräch mit den ökumenischen Schwesterkirchen zu suchen, ohne ihnen freilich ein Einspruchsrecht einzuräumen.

    Einen besonderen Problemaspekt bildet die Frage, ob gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften in Pfarrhäusern möglich sein sollen. Bei den hier zu treffenden Einzelfallentscheidungen, bei denen sich Kirchenleitungen über die drei Verträglichkeitskriterien hinaus an dem zu orientieren haben, was für die Erfüllung des kirchlichen Auftrags notwendig und gut ist, sprechen insgesamt betrachtet viele Argumente gegen eine Zulassung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften in Pfarrhäusern.

  • Können homosexuell lebende Menschen oder homosexuelle Partnerschaften seitens der Kirche gesegnet werden [Kapitel 6]? Die  Orientierungshilfe geht davon aus, dass der Segen Zuspruch des Beistandes Gottes für Menschen ist und zugleich den Charakter der göttlichen Einwilligung hat. Diese Einwilligung kann im Blick auf die homosexuelle Lebensweise oder Partnerschaft als solche nicht ausgesprochen werden. Wenn homosexuell geprägte Menschen im Rahmen der geistlichen Begleitung durch andere Christen für sich eine Segnung erbitten, sollten sie jedoch ebenso wenig abgewiesen werden wie andere Menschen, die eine solche Bitte äußern. Ihren Ort hat eine solche Segnung in der Seelsorge und der damit gegebenen Intimität. Diese Segnung im Rahmen eines Gottesdienstes vorzunehmen, kann wegen der Gefahr von Missverständnissen nicht befürwortet werden. In jedem Fall muss für alle Beteiligte erkennbar sein: Gesegnet wird nicht die gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft als Form des Zusammenlebens, sondern gesegnet werden Menschen, und zwar in diesem Fall homosexuell geprägte Menschen, die allein oder in einer gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft ethisch verantwortlich leben.
  • Die Orientierungshilfe versucht so, die im Thema liegenden Spannungen nicht zu beseitigen, sondern auszuhalten und in kirchlichen Entscheidungen zur Geltung zu bringen. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland hofft, dass damit ein Beitrag zur sachlichen Klärung vorliegt, der die Voraussetzungen für eine breite Konsensfindung in der evangelischen Kirche (und darüber hinaus) schafft.

    Hannover, 14. März 1996
    Pressestelle der EKD