Kirchen schreiben an Bundestagsabgeordnete

Votum für Schutz des Menschen von Anfang an erbeten

17. Januar 2002

Zwei Wochen vor der am 30. Januar anstehenden Entscheidung des Deutschen Bundestages über den Import embryonaler Stammzellen zu Forschungszwecken haben die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und die Deutsche Bischofskonferenz die Abgeordneten um ein klares "Votum für die Würde und den Schutz des Menschen von Anfang an" gebeten.

Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann, und der Vorsitzende des Rates der EKD, Präses Manfred Kock, betonen in ihrem Brief vom 14. Januar an alle Parlamentarier, dem künstlich erzeugten Embryo komme "Lebensrecht und uneingeschränkter Lebensschutz vom Zeitpunkt der Befruchtung an" zu. Ein Ansetzen des Lebensbeginns zu einem späteren Zeitpunkt oder ein lediglich abgestufter Lebensschutz für den frühen Embryo steht - so die beiden Vorsitzenden - unter ethischen Gesichtspunkten "auf schwankendem Boden".

An sich wünschenswerte Therapie- oder Heilungsmöglichkeiten für schwere Erkrankungen dürfen nicht losgelöst von den Methoden gesehen werden, mit denen man sie entwickelt, halten Lehmann und Kock den Befürwortern eines Stammzellenimportes entgegen. Forschungsmethoden, die eine "Vernichtung embryonaler Menschen" beinhalten, bezeichnen EKD und Bischofskonferenz als "inakzeptabel". Sie setzen sich als Alternative besonders für die verstärkte Forschung an adulten (erwachsenen) Stammzellen ein. Diese biete auch einen Anreiz für einen Dialog mit anderen Ländern.

Präses Kock und Kardinal Lehmann bezeichnen den Teilbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur Stammzellforschung als "fundierte und wertvolle Arbeitsgrundlage". Die notwendigen Auseinandersetzungen über die darin enthaltenen unterschiedlichen Positionen und die anstehenden Entscheidungen "müssen in wechselseitigem Respekt und in Achtung vor der jeweils anderen Überzeugung erfolgen", schreiben die Vorsitzenden der beiden Kirchen an die Mitglieder des Bundestages.

Hannover/Bonn, den 17. Januar 2002

Pressestelle der EKD
Pressestelle der Deutschen Bischofskonferenz

Diese Pressemitteilung wird zeitgleich von beiden Pressestellen veröffentlicht. Es folgt der Wortlaut des Briefes von Präses Kock und Kardinal Lehmann:


An die Abgeordneten
des Deutschen Bundestages

Sehr geehrte Damen und Herren,

am 30. Januar 2002 wird die Bundestagsdebatte zu Fragen der Stammzellforschung, insbesondere zum Import menschlicher embryonaler Stammzellen, stattfinden. Im Hinblick auf diese weitreichende Debatte wenden wir uns heute persönlich mit diesem Schreiben an Sie, das wir auch der Öffentlichkeit zugänglich machen werden.

Sie haben im Deutschen Bundestag bereits im März 2000 die Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ eingesetzt, weil Sie in Kenntnis des durch biologische und gentechnische Neuerungen aufgeworfenen Klärungsbedarfs sachgerecht Ihr durch die Wählerinnen und Wähler ausgestelltes Mandat wahrnehmen wollen. Der bereits veröffentlichte Teilbericht der Enquete-Kommission zur Stammzellforschung ist eine fundierte und wertvolle Arbeitsgrundlage. Zur Forschung an importierten Stammzellen legt die Enquete-Kommission ein Mehrheits- und ein Minderheitsvotum vor. Darin werden grundlegende Auffassungsunterschiede deutlich, die auch auf anderen Ebenen der bioethischen Debatte anzutreffen sind. Die notwendigen Auseinandersetzungen über diese verschiedenen Positionen und die anstehenden Entscheidungen müssen in wechselseitigem Respekt und in Achtung vor der jeweils anderen Überzeugung erfolgen.

Die Deutsche Bischofskonferenz und der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland nehmen, wie Sie wissen, seit langem an der bioethischen Diskussion aktiv teil. Diese beiden Gremien und wir als Vorsitzende haben mehrfach unsere gemeinsame Überzeugung in der Öffentlichkeit zum Ausdruck gebracht. Die anstehenden Entscheidungen über den Umgang mit menschlichen Embryonen und über den Import bestehender Stammzellen, durch deren Entnahme Embryonen vernichtet werden, veranlassen uns, erneut an folgende Grundsätze zu erinnern:

  • Dem Embryo in vitro, als einem der Einfluss- und Missbrauchsmöglichkeit Dritter in besonderer Weise ausgesetztem menschlichen Lebewesen, sind Lebensrecht und uneingeschränkter Lebensschutz vom Zeitpunkt der Befruchtung an geschuldet. Jede andere Prämisse, die etwa den Lebensbeginn zu einem späteren Zeitpunkt ansetzt oder dem frühen Embryo Lebensschutz nur in abgestufter Weise zugesteht, steht unter ethischem Gesichtspunkt auf schwankendem Boden. Sie setzt sich zudem der Gefahr aus, dem Bild vom Menschen und der Würde des Menschen, auf denen das Grundgesetz aufbaut, nicht gerecht zu werden.
  • Eine angestrebte Therapie oder Heilung für bisher noch unheilbare schwere Erkrankungen - so wünschenswert sie wäre - ist nicht losgelöst zu sehen von den Methoden, mit denen sie erreicht werden soll, und von den Folgen, die sich aus der Befürwortung dieser Methoden ergeben. Wo diese Methoden eine Vernichtung embryonaler Menschen vorsehen, erweisen sie sich als inakzeptabel.
  • Die Unterstützung und Förderung alternativer Methoden auf dem Weg zu neuen Möglichkeiten von Therapie und Heilung (z.B. die verstärkte Forschung an adulten Stammzellen) kann auch zum Anreiz für einen Dialog werden, der über die Grenzen Deutschlands hinaus zu führen ist, sowohl mit Ländern, in denen bereits erste Entscheidung getroffen wurden, als auch mit Ländern, die sich wie wir noch in einer Sondierungsphase befinden.

Wir bitten Sie eindringlich, diese grundlegenden Aspekte - in Verantwortung für die jetzige und für die künftige Generation - in Ihre Entscheidungsfindung mit einzubeziehen und in der Abstimmung zu einem klaren Votum für die Würde und den Schutz des Menschen von Anfang an beizutragen.


Mit freundlichen Grüßen

Präses Manfred Kock
Vorsitzender des Rates der EKD

Karl Kardinal Lehmann
Vorsitzender der DBK