Um Gottes Willen für den Menschen!

Statement des EKD-Ratsvorsitzenden in der Pressekonferenz zur Woche für das Leben 2003

31. März 2003

Chancen und Grenzen des medizinischen Fortschritts

Zur „Woche für das Leben 2003“ vom 3. bis 10. Mai erklärt der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Präses Manfred Kock, auf der Vorab-Pressekonferenz am Montag, 31. März 2003, in der Katholischen Akademie, Berlin:

Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und die Deutsche Bischofskonferenz führen von 3. bis 10. Mai 2003 bundesweit in Kirchengemeinden, Verbänden, Werken und Bildungseinrichtungen die Woche für das Leben unter dem Motto: „Chancen und Grenzen des medizinischen Fortschritts“ durch.

Die Woche für das Leben findet damit bereits zum 13. Mal statt. Sie ist eine gemeinsame Initiative der Katholischen und der Evangelischen Kirche in Deutschland. Sie hat auch in diesen Jahr das Ziel, das Bewusstsein für die Schutzwürdigkeit und die Schutzbedürftigkeit menschlichen Lebens in all seinen Stadien zu schärfen.

Jedes menschliche Individuum ist von Gott liebend angenommen und begleitet. Alle Menschen haben unverlierbare Würde; das Leben jedes einzelnen ist kostbar in den Augen Gottes. Gott ist ein Freund des Lebens. Das aber kann nicht ohne Auswirkung auf das Verhältnis der Menschen untereinander bleiben. „Um Gottes willen für den Menschen“ ist daher eine klare Richtungsangabe und ein Qualitätsmerkmal für unser Handeln. Christinnen und Christen arbeiten für den Aufbau einer Kultur, die das Leben des Menschen gegen Bedrohung schützt und die Entfaltung seiner Gaben fördert. Die Woche für das Leben will hier Akzente. Sie will auf Gefährdungen und problematische Entwicklungen hinweisen, die den Schutz des Lebens gefährden und , bisweilen auch unter dem Vorwand der Heilung, willkürlich und irreversibel in die Grundlagen des Lebens eingreifen.

Unter dem gemeinsamen Leitthema „Um Gottes willen für den Menschen“ befasste sich die Woche für das Leben im vorigen Jahr mit Fragen des menschlichen Lebens an seinem Beginn, im kommenden Jahr wird es um den Menschen am Ende des Lebens gehen. In diesem Jahr geht es um die Entfaltung des Lebens. Dabei stehen „Chancen und Grenzen des medizinischen Fortschritts“ im Mittelpunkt:

Wir brauchen in der bioethischen Forschung dringend eine umfassende lebensfreundliche Grundeinstellung, damit sich die Suche nach besseren Lebenschancen nicht in ihr Gegenteil verkehrt.

Die Erfolge, die der medizinische Fortschritt erreicht hat, sind beachtlich und haben inzwischen Heilung oder zumindest Linderung möglich gemacht, wo noch vor Jahr und Tag ärztlicher Kunst enge Grenzen gesetzt waren. Wir sind dankbar, dass Lebenserwartung und Lebensqualität für viele dank solchen Fortschritts gesteigert werden können. Solcher Zuwachs an Lebensmöglichkeiten ist allemal zu begrüßen. Jesus Christus hat Blinden die Augen, Tauben die Ohren und Stummen den Mund geöffnet. Lähmungen hat er überwunden: in der Seele und im Körper, im Leben des Einzelnen und in der Gesellschaft. Wer die Botschaft Jesu vom Anbruch des Gottesreiches hörte, dem wuchsen neue Lebensmöglichkeiten zu. Menschen die von Jesus angerührt wurden, spürten: Unser Leben ist mehr als ein Gastspiel auf dieser Erde.

Leben kann uns soll sich nach Gottes Willen in der Vielfalt seiner Möglichkeiten entfalten dürfen, es soll wachsen und reifen können. Die Heilungsberufe genießen im Kontext christlicher Verkündigung hohes Ansehen. Denn: Wer das Leben fördert, sich für Heilung einsetzt und gegen das Leid ankämpft, arbeitet mit an der Vollendung der Schöpfung.

Zu einer umfassenden Förderung des Lebens und zum erfolgreichen Kampf gegen das Leiden gehört aber, unabdingbar auch die Grenzen des Fortschritts im Blick zu behalten. Darauf wollen wir in der diesjährigen "Woche für das Leben" besonders hinweisen.

Gesundheit und Wohlbefinden sind auch mit einer noch so hochentwickelten Medizintechnik nicht einfach herstellbare Gebrauchsgüter. Die Vorstellung, Krankheit an sich ließe sich medizinisch-technisch in den Griff bekommen, ist und bleibt eine gefährliche Illusion, denn sie führt die Medizin in einen Machbarkeitswahn, mit Folgen, die niemand wollen kann. Angesichts der Entwicklungen etwa in der prädiktiven Gendiagnostik stehen wir vor einem Paradigmenwechsel in der Gesundheitspolitik. Die Frage, was "Gesundheit" und was "Krankheit" ist, muss neu beantwortet werden. Wer heute weiß, dass er in einigen Jahren mit Sicherheit an einer schweren Krankheit erkranken wird, ist der noch gesund oder schon krank? Ist es den Menschen dienlich, über solches Vorwissen zu verfügen, wenn es keine Therapiemöglichkeit gibt? Oder kippen solche Möglichkeiten nicht immer wieder um zu einem Nachteil des Betroffenen, der schon für die bloße Disposition für eine Krankheit behaftet wird, ohne dass es je zum Ausbruch eines Leidens kommt? Auf diese Fragen, gibt es keine einheitlichen Antworten. Die Woche für das Leben 2003 lädt dazu ein, über diese Herausforderungen miteinander ins Gespräch zu kommen und am christlichem Glauben Kriterien zu entwickeln.

An Grenzen stößt der medizinische Fortschritt aber auch dort, wo menschliches Leben selbst zum Opfer des Erfolges wird, wie bei "der Gewinnung" von embryonalen Stammzellen. Wenn ein Leben auf Kosten eines anderen erhalten und gefördert, wenn menschliches Leben zu Zwecken der Forschung „verbraucht“ wird, oder wenn man sich eine Entscheidung darüber anmaßt, welche Stadien des Lebens Entfaltung und Zuwendung verdienen und welche nicht, dann verfehlen die Bemühungen der Medizin ihr ursprüngliches Ziel, dem Leben zu dienen.

Schließlich ist aus christlicher Sicht auch darauf hinzuweisen, dass die Befreiung von Krankheit und physischem Leid bei aller positiven Bedeutung, die ihr zukommt, nicht verabsolutiert werden darf. Es gibt sinnvolles und als sinnerfüllt erfahrbares Leben unter schwer eingeschränkten gesundheitlichen Bedingungen. Darum geht es uns auch wesentlich darum, die personalen Würde unheilbar Kranker und irreversibel Behinderter zu schützen. Es bleibt die Gemeinschaftsaufgabe der Gesunden und Leistungsfähigen, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Kranke und Behinderte, ihr Leben nach ihren Möglichkeiten positiv entfalten und zur Reife bringen können. Der Umgang mit Krankheit, Gebrechlichkeit, Leid und Tod unter Wahrung der Menschenwürde will gelernt sein. Dies gilt nicht nur für die heilenden und helfenden Berufe, sondern für jeden von uns. Unterstützung und Förderung bietet dabei nicht nur die Medizin, sondern auch die pflegerischen Dienste und nicht zuletzt die seelsorgende Begleitung. Der medizinische Fortschritt darf nicht dazu verleiten, diese ganzheitlichen Aspekte einer Kultur des Helfens zu unterschätzen oder sie sogar langfristig für entbehrlich zu betrachten. Wenn kranke Menschen nur noch nach den Kriterien "satt und sauber" behandelt werden und niemand mehr sie mit Zuwendung begleitet, dann geht viel mehr verloren, als nur ein sozialer Standard.

Die Menschlichkeit, deren Maßstab die Botschaft Jesu vom gnädigen Gott und liebenden Vater ist, für sie plädieren wir mit der Woche für das Leben: Die Menschlichkeit einer Gesellschaft, die sich ihrer eigenen Grenzen bewusst bleibt, die damit zurecht komme kann, dass wir begrenzte, endliche und unvollkommene Wesen sind und bleiben. Diese Menschlichkeit ist zugleich das entschiedene Nein zum Wahn, selber sein zu wollen wie Gott, in dem wir unsere Schöpfung in die eigene Hand nehmen. Was klingt wie ein Verzicht ist im Kern der Respekt vor dem Leben als ein Geschenk aus der Hand Gottes.

Für die Richtigkeit
Hannover/Berlin, 31. März 2003
Pressestelle der EKD
Christof Vetter