Um Gottes Willen für den Menschen! Von Anfang an das Leben wählen statt auswählen

Statement des Vorsitzenden der DBK, Karl Kardinal Lehmann auf der Pressekonferenz zur Woche für das Leben

15. März 2002

Unter dem Motto: „Von Anfang an das Leben wählen statt auswählen“ führen die Deutsche Bischofskonferenz und der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) die Woche für das Leben vom 13. bis 20. April 2002 bundesweit in allen Kirchengemeinden, Verbänden, Werken und Bildungseinrichtungen durch.

Seit ihrer Gründung im Jahre 1991 weist die Woche für das Leben auf die vielfältigen Gefährdungen des menschlichen Lebens hin. Die Sorge um den Schutz des Lebens bezog sich zwar zunächst und zuerst um den Schutz des ungeborenen Kindes. Es war aber klar, dass man gerade um dieses Zieles willen den ganzen Lebensschutz in allen menschlichen und gesellschaftlichen Bereichen zur Geltung bringen muss. Die Unteilbarkeit des Lebensschutzes sollte, wenigstens im Lauf der Zeit, eine gewisse Gesamtlogik des Schutzes nach sich ziehen, die auch dem Bereich des Lebens vor der Geburt mehr und mehr einbezieht. In diesem Sinne haben wir Themen folgender Art behandelt: Kinderfreundliche Gesellschaft, Leben im Alter, Leben mit Behinderten, Abhängigkeit und Suche, Sterben als Teil des Lebens, Miteinander leben in Ehe und Familie, Verantwortung für die Schöpfung usw. Dazu haben wir auch in einer Ausstellung einen Überblick geschaffen. Dabei standen in den letzten Jahren immer wieder der Anfang und das Ende des Lebens im Mittelpunkt. In diesem Jahr richten wir unser Augenmerk auf die Präimplantationsdiagnostik (PID) und die embryonale Stammzellforschung. In beiden Fällen handelt es sich um die Gewinnung und Anwendung humangenetischer Erkenntnisse beim Menschen in seinem frühesten Anfangsstadium. Mit modernsten Methoden der Forschung und der Medizintechnik wird in das Leben des embryonalen Menschen eingegriffen. Es unterliegt immer mehr der Verfügbarkeit des Menschen. Der Mensch nimmt den Menschen und dessen Lebensschicksal im wahrsten Sinne des Wortes in die eigene Hand. Erstmals in der Geschichte der Menschheit scheint es möglich, dass der Mensch sich wie sein eigener Schöpfer aufführt und gebärdet.

In Deutschland werden zwischen 60.000 und 80.000 künstliche Befruchtungen (In-vitro-Fertilisation) pro Jahr vorgenommen, freilich bislang noch ausschließlich bei Paaren mit unerfülltem Kinderwunsch. Mit der künstlichen Befruchtung verbindet sich auch in Deutschland in den letzten Jahren verstärkt die Frage nach der Anwendung der Präimplantationsdiagnostik. Im unserem zur Woche für das Leben 1997 veröffentlichten gemeinsamen Wort: „Wieviel Wissen tut uns gut? Chancen und Risiken der voraussagenden Medizin“ haben wir bereits darauf hingewiesen, dass sich die mit den Möglichkeiten heutiger Pränataldiagnostik verbundene Gefahr der Eugenik bei der Anwendung der Präimplantationsdiagnostik noch einmal verschärfen wird, da diese im Gegensatz zur Pränataldiagnostik keinerlei therapeutischen Zwecken dient, sondern „allein auf die Selektion von menschlichem Leben ausgerichtet ist“ (S. 25).

Nicht auszuschließen ist, dass sich in Zukunft der Anwendungsbereich der Präimplantationsdiagnostik - wenn sie tatsächlich auch in Deutschland erlaubt werden sollte, was ich nicht hoffe - ausweitet und Paare eine künstliche Befruchtung mit gleichzeitiger PID in Anspruch nehmen wollen. Sie wollten zunächst ausschließen, dass bei ihrem Kind eine Chromosomenstörung oder Erbkrankheit vorliegt. Aber es zeigt sich doch auch die Gefahr wie es jetzt zum Teil auch schon beider Pränatalen Diagnostik erkennbar wird, dass man bestimmte Merkmale eines Kindes bevorzugt, wie z.B. Geschlecht, Körpergröße, Farbe der Augen usw. Hier kündigt sich eine Mentalität an, die Leben gegen Leben aus sehr vordergründigen Motiven abwägt und – mindestens im Lauf der Zeit – zu einer Haltung kommt, die man nicht anders als Auswahl und Selektion bezeichnen kann.

Die künstliche Befruchtung und die Erzeugung „überzähliger Embryonen“ bietet den Wissenschaftlern zweitens die Möglichkeit der Forschung an embryonalen Stammzellen. Von ihr erhoffen sich viele spürbare Fortschritte bei der Bekämpfung oder Linderung schwerer Krankheiten wie zum Beispiel Parkinson, Diabetes oder vielleicht Multiple Sklerose.

Weil aber in diesem Bereich Fakten und Visionen, Erreichbares und Wunschträume, Erlaubtes und Verbotenes ganz dicht beieinander liegen oder auch durcheinandergehen, bedarf es der grundsätzlichen ethischen Orientierung. Die Woche für das Leben will dazu beitragen. Sie versteht sich als ergänzende Maßnahme in einem dichten Geflecht von Bemühungen, mit denen wir auf diese Problematik aufmerksam machen und Antworten zu geben versuchen.


Der Wunsch von Eltern nach einem gesunden Kind ist nur zu verständlich. Einen Anspruch auf ein gesundes Kind gibt es aber nach unserer Rechtsauffassung und besonders nach unserer christlichen Auffassung nicht. Andernfalls hieße dies ja, dass ein Mensch im Falle von Krankheit und Behinderung weniger liebenswert wäre und weniger Recht auf Leben habe. Eine solche Haltung lehnen wir ab, da sie zutiefst inhuman ist.

Das Ziel, schwerste Krankheiten zu heilen, erscheint nicht nur wünschenswert. Es ist aus christlicher Sicht sittlich geboten. Allerdings müssen die Methoden, mit denen man das Ziel erreichen will, in Einklang stehen mit der unveräußerlichen Würde und dem Anspruch auf Leben und körperliche Unversehrtheit jedes Menschen. Jedem, auch dem künstlich gezeugten Embryo, kommen Lebensrecht und uneingeschränkter Lebensschutz zu. Daher hat auch niemand das Recht, das Leben Dritter - wie bei der Stammzellforschung – zu schädigen oder gar zu vernichten, seien die Forschungsziele auch noch so hochrangig.

Die Frage nach der Schutzwürdigkeit des menschlichen Lebens hängt entscheidend von der anthropologischen und theologischen Frage ab: Wann beginnt menschliches Leben? Diese Frage ist immer wieder in den letzten Wochen und Monaten eingehender behandelt worden (vgl. mein Referat „Das Recht ein Mensch zu sein“ bei der Eröffnung der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda, am 24.9.2001; Vom Wunder des Lebens. Brief an die Gemeinden über eine Grundfrage der gegenwärtigen bioethischen Diskussion, Hirtenwort zur Österlichen Bußzeit 2002, Mainz 2002). Deshalb dürfen wir uns hier kurz fassen. Ein Blick in die Psalmen zeigt uns, wie sehr schon der Beter des Alten Testaments zutiefst von der Gewissheit geprägt war, dass Gott der Urheber und Schöpfer des Lebens ist: „Denn du hast mein Inneres geschaffen, mich gewoben im Schoß meiner Mutter. Ich danke dir, dass du mich so wunderbar gestaltet hast. Ich weiß: Staunenswert sind deine Werke“ (Psalm 139, 13f.).

Diese Gewissheit ist prägend für das gesamte jüdisch-christliche Denken und unser Bild vom Menschen, das sich auch in unserer Verfassung wiederspiegelt. So möchte ich bei dieser Gelegenheit daran erinnern, dass der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil zum Schwangeren- und Familienhilfegesetz vom 28. Mai 1993 ausdrücklich festhält, dass es sich beim ungeborenen Menschen „um individuelles, in seiner genetischen Identität und damit in seiner Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit bereits festgelegtes, nicht mehr teilbares Leben, das im Prozess des Wachsens und Sich-Entfaltens sich nicht erst zum Menschen, sondern als Mensch entwickelt“ (BVerfGE 88, 203), handelt.


Es stellt sich stets neu die Frage nach dem Bild vom Menschen, nach dem, was unserer Meinung nach zum geglückten Leben gehört und was den Sinn und die Würde menschlichen Lebens ausmacht. In unserer Leistungs- und Konsumgesellschaft besteht die Gefahr, dass kranke und behinderte Menschen zunehmend ausgegrenzt werden. Was für den Menschen zu seinem frühesten Beginn an gilt, gilt dann auch für diejenigen Menschen, die heute krank und mit Behinderung unter uns leben. Viele Menschen mit Behinderung fragen sich deshalb: Darf ich überhaupt noch sein? Hinter der Forderung nach der Anwendung der Präimplantationsdiagnostik wird ein Menschenbild erkennbar, dass keinen Platz mehr lässt für Menschen, die „von der Norm abweichen“. Eine humane Gesellschaft hat sich aber daran messen zu lassen, ob und wie weit sie solidarisch ist mit ihren kranken, behinderten und sterbenden Mitmenschen.

Ein Vers aus dem Buch Deuteronomium, dem 5. Buch Mose, stellt vielleicht eine treffende Zusammenfassung dessen dar, um was es auch der diesjährigen Woche für das Leben geht:

„Leben und Tod lege ich dir vor,
Segen und Fluch.
Wähle also das Leben,
damit du lebst,
du und deine Nachkommen“
(Deut 30,19).

 

Frankfurt/Hannover, den 15. März 2002
Pressestelle der EKD