Ein Christ beuge sich vor Gott und für andere Menschen

Huber hält Schlussvortrag auf Tagung in Wittenberg

25. September 2004

„Die Zuwendung Gottes, aus der wir leben, macht uns frei von der Welt und ruft uns in die Verantwortung für die Welt.“ Dies bezeichnet der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischof Wolfgang Huber, als „grundlegende Bestimmung des Verhältnisses von Glaube und Macht“. Der Ratsvorsitzende sprach in der Schlosskirche zu Wittenberg zum Abschluss der 30. Tagung des Theologischen Arbeitskreises für Reformationsgeschichtliche Forschung (TARF) der Union Evangelischer Kirchen in der EKD (UEK). Seit dem 23. September tagte der TARF in Wittenberg und Torgau, unterstützt von der Stiftung „Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt“ und dem Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde in Dresden zum Verhältnis zwischen religiösem Glauben und Macht. Diese Verhältnisbestimmung sei für evangelische Christen zwar durch die Reformation vorgezeichnet, so Huber, aber „angesichts der großen Herausforderungen unserer Zeit ist sie von unüberbietbarer Aktualität“.

Weil in allerjüngster Vergangenheit immer wieder Religion in Anspruch genommen worden sei, um tödliche Gewalt zu rechtfertigen, habe sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Glaube und Macht „noch einmal verschärft“, fasst Huber die aktuelle Situation zusammen. Aus „europazentrischer Perspektive“ habe man diese Frage „als längst überwunden angesehen“. So fordere etwa die islamistische Verbindung zwischen Religion und Macht, der Hindunationalismus in Indien, die neue Nähe zwischen Religion und Politik in Amerika und in manchen orthodox geprägten Ländern heraus, „kritisch zu prüfen, inwieweit die europäische Entwicklung zu einem auf Dauer tragfähigen Modell geführt hat“, fragt Huber, bevor er die Antwort der Reformation darstellt. Für Martin Luther gehörte „das Vorhandensein von Macht zu den Bedingungen der Welt, in der die Glaubenden leben“. Dabei habe er den Kern eines theologischen Widerstandsrechts formuliert. Er habe an der „Vorläufigkeit menschlichen Machtgebrauchs“ nie einen Zweifel aufkommen lassen. Die Bekennende Kirche habe während des Dritten Reichs sich zuerst „allzu sehr auf die kirchlichen Folgen der Machtergreifung konzentriert und deren politische Ursachen und Auswirkungen nur zögernd in den Blick“ genommen. Doch die innerkirchliche Definition der Machtausübung habe klar gestellt „dass der Umgang mit Macht nur dann ethisch zu rechtfertigen ist, wenn er nicht im Interesse der eigenen Machtsteigerung, sondern im Dienst anderer Menschen und ihrer Lebenschancen folgt“. Die Frauen und Männer des 20. Julis 1944 seien dann „für die Würde des Menschen“ in den Widerstand gegangen: „Sie verloren das eigene Leben, weil sie das Leben anderer retten wollten,“ fasst der Ratsvorsitzende zusammen: „Wo Untätigkeit zur Mitschuld würde, entsteht eine ethische Pflicht zum Widerstand.“ Dabei sei die Bereitschaft zum äußersten Mittel der Gewaltanwendung darin zu sehen, dass es keine Alternative gab, weiteres Töten zu verhindern.

Dabei setzt Wolfgang Huber bei seiner Darstellung voraus, dass Macht „nicht in sich schlecht oder böse“ sei. Macht dürfe deshalb auch nicht vollständig von ihrem Missbrauch aus definiert werden. Der Ratsvorsitzende definierte deshalb: „Zwar kann der Missbrauch von Macht das menschliche Leben misslingen lassen, aber ohne Macht kann dieses Leben – aufs Ganze gesehen – auch nicht gelingen.“

Der Christ beuge sich vor Gott und sonst vor niemanden, aber er beuge sich sehr wohl für andere Menschen, schließt Wolfgang Huber aus seinen Überlegungen zur Reformationsgeschichte und zu Geschichte des Widerstands während des Dritten Reichs. Wenn es im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland heiße, dass das Grundgesetz „in Verantwortung vor Gott und den Menschen“ gegeben wurde, stehe dies in Verbindung mit dem Vermächtnis des Widerstands. Das Grundgesetz gebe dem Widerstandsrecht Verfassungsrecht und unterstreiche damit die Grenze, „die jeder menschlichen Machtausübung“ gezogen sei. Dies sei auch der Grund gewesen, warum er zusammen mit Karl Kardinal Lehman einen Gottesbezug in der Präambel der Europäischen Verfassung gefordert habe.

Hannover, 25. September 2004

Pressestelle der EKD
Christof Vetter

Der Vortrag im Wortlaut