Ökumenischer Gottesdienst zur Konstituierung des Deutschen Bundestages

Begrüßung EKD-Ratsvorsitzender Kock und Predigt Kardinal Lehmann

17. Oktober 2002

Ökumenischer Gottesdienst anlässlich der Konstituierung des Deutschen Bundestages am 17. Oktober 2002 in der St.-Hedwigs-Kathedrale zu Berlin

Begrüßungswort des Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD),
Präses Manfred Kock

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes – Unsere Hilfe steht im Namen des Herrn, der Himmel und Erde geschaffen hat. Der Herr sei mit Euch!

Das biblische Leitwort für diesen Tag aus der Tradition der Herrnhuter Brüder entstammt dem letzten Buch der Bibel - der Apokalypse des Johannes und lautet:

Ich sah die Heilige Stadt,
das neue Jerusalem,
von Gott her aus dem Himmel herabgekommen.
Sie war bereit wie eine Braut,
die sich für ihren Mann geschmückt hat.    (Apok. 21, 2)

Ein wunderschönes Bild von der Vollendung der Erde ist das.
Ob sich diese Vision wohl eignet für diesen Anlass der Konstituierung des Deutschen Bundestages?
Vollendung der Welt – ein neuer Himmel, eine neue Erde mag das Ziel politischer Arbeit wohl nicht sein!
Aber eine unbändige Sehnsucht spiegelt sich in den Worten des Johannes:

Die neue Stadt, der neue Himmel, die neue Erde -
Gott wohnt bei den Menschen,
wird abtrocknen alle Tränen
der Tod wird nicht mehr sein,
kein Weinen, keine Trauer, keine Mühsal wird mehr sein.

Die unbändige Sehnsucht nach Heil in unserer zerrissenen Welt drückt sich so aus. Die Vision des Johannes liefert ein starkes Gegenbild zu unserer Realität. Diese Worte stehen gegen die Attentate von New York und Bali, gegen die Selbstmordanschläge in Israel und ihre gewaltsame Vergeltung, gegen die brutalen Mordtaten einzelner wie in Erfurt, gegen die feigen Schüsse auf arglose Passanten in Washington, gegen die heimtückischen Ermordung eines kleinen Jungen unlängst in Frankfurt, - All das erschüttert uns zutiefst und doch wird all das nicht das letzte Wort sein. Auch nicht die berechenbaren, von Menschen verursachten Katastrophen dieser Erde:

nicht die Ängste und Krankheiten,
nicht die Kriege und das Elend der Flüchtlinge,
nicht die verhungernden Kinder in Afrika;
nicht der ungestillte Hunger der Einsamen und Ungeliebten,
nicht die Schmerzen unserer Seelen und Körper – all das wird nicht das letzte sein. All das wird umschlossen von der Güte Gottes, die die Liebe ist.

Die Visionen sind nicht geboren aus dem Bedürfnis nach Trost. Dem Seher, der die Bilder beschreibt, haben sie sich eingeprägt von dem, was geschehen ist.

„Es ist vollbracht“, sagt Christus am Kreuz.

Gott ist in der Welt. Licht in den Herzen der Menschen. Denn er befreit aus den Verstrickungen der Schuld und der Vorurteile, aus den Fesseln des Leidens, des Todes.
Hinter allem, was wir sehen und leiden, hinter allem, was uns irritiert und zweifeln lässt, gibt es die unendliche Wirklichkeit Gottes. Wir sind im letzten geborgen.

Wir brauchen solche Visionen!
Wir brauchen sie nicht, um uns zu beruhigen oder um die zu vertrösten, die ärmer dran sind als wir.
Wir brauchen diese Bilder, weil sie Widerstand wecken gegen die Verbrechen, gegen die Leichtfertigkeit, gegen die Gier nach Geld und Macht, gegen die Resignation.

Denn die Sehnsucht nach Heimat und nach Heil kann sensibel machen für die Leiden der Menschen – ist darum Kraftquelle zum Abbau von Mauern und Grenzen.

Und damit ist dann doch auch die politisch verantwortete Arbeit angesprochen.
Die Gesetzgebung des neugewählten Parlaments, die Arbeit der Regierung und der Verwaltung werden die neue Stadt nicht vom Himmel holen. Aber sie können aus den Bildern Gestaltungshilfe beziehen für diese Zeit und die politische Arbeit daran ausrichten. Denn die „Offene Stadt“ beschreibt als Bild unsere menschliche Bestimmung von Anfang an: Im globalen Zeitalter muss Geschwisterlichkeit ausgeweitet werden über die eigene kleine Gruppe hinaus.

Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident
sehr geehrter Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts,
sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete des Deutschen Bundestages,
ich grüße Sie alle zu diesem ökumenischen Gottesdienst.

Er sei heute ein Zeichen für die Weite, in die Sie mit Ihrer Arbeit gestellt sind.
Er sei eine Stärkung, dass Ihre Kräfte immer wieder Nahrung erhalten.
Es sei auch eine Kraft, die Sie an Ihre Grenzen erinnert.

Darum lassen Sie uns heute miteinander beten und singen und auf Gottes Wort hören.


Predigt des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann

Predigttext: 1 Thess 5,19-22

Paulus schreibt seinen allerersten Brief schon sehr früh, nämlich im Jahr 49 oder 50, nach Europa. In diesem sogenannten ersten Thessalonicher Brief zieht er zwar noch nicht alle Register seiner kühnen Theologie, wie er es in den späteren großen Briefen z. B. nach Rom und Korinth tut, aber er gibt viele praktische Hinweise für das Leben des Einzelnen und der Gemeinde. Es gibt damals offenbar schwärmerische Tendenzen, die glauben machen wollen, man lebe schon in einem ganz neuen Zeitalter, der Tag des Herrn sei bereits angebrochen, sodass viele Verhaltensweisen des Alltags nicht mehr gelten. So kommt es auch zu ganz einfachen Anweisungen, die auch uns heute angehen.

Im Text heißt es: „Löscht den Geist nicht aus! Verachtet prophetisches Reden nicht! Prüft alles, und behaltet das Gute! Meidet das Böse in jeder Gestalt!“ (5,19-22)

Bereits hier erhalten wir einen wichtigen Hinweis: Es gibt immer wieder Menschen, die von manchen Ideen begeistert sind, dabei manchmal auch überspannt wirken und in der Begeisterung die Wirklichkeit überfliegen. Wir haben schnell das Etikett „Spinner“ oder „Phantast“ bei der Hand. Paulus geht geschickt mit solchen Menschen um. Es steckt ein Körnchen Wahrheit in ihrem Verhalten. Wir dürfen nicht in der Routine und in den Gewohnheiten unseres Lebens erstarren. Wir brauchen immer wieder die Herausforderung, nach neuen Ideen zu suchen. Je mehr unser Leben organisiert und strukturiert wird, um so eher droht die Gefahr der Undurchlässigkeit und der Verschlossenheit für das Neue, das uns auch weiterführen kann. Da kommt die Mahnung zurecht: „Löscht den Geist nicht aus! Verachtet prophetisches Reden nicht!“ Prophetisch bzw. Prophetie heißt hier nicht in erster Linie, dass man künftige Ereignisse voraussagt, sondern es ist eine besondere Gabe, die Situationen und die Mentalitäten, das „Herz“ der Menschen zu durchschauen, nach der Wahrheit zu suchen und in den „Zeichen der Zeit“ Gott zu erfahren. Dies geschieht unter der Führung des Geistes, der von Gott her den Weg freihält zur Entdeckung des neuen Lebens. Auch wenn man sich über die Überspanntheit mancher solcher Propheten ärgert, darf man nicht das Kind mit dem Bad ausschütten: Wir brauchen immer wieder unverbrauchte Visionen und Vorschläge für die Gestaltung unseres Lebens.

Aber dies ist nicht alles. Der Text fährt fort: „Prüft alles, und behaltet das Gute! Meidet das Böse in jeder Gestalt!“ Auch wenn etwas neu und faszinierend ist, darf man es zwar nicht von vornherein ablehnen, aber auch nicht unkritisch übernehmen. Die Offenheit, die Paulus dem Ungewohnten einräumt, verlangt nun auch den kritischen Umgang mit ihm. Nicht alles, was außergewöhnlich erscheint und geistvoll wirkt, ist auch schon gut. Paulus verlangt, dass wir alles prüfen. "Prüfen" ist ein wichtiges Wort bei ihm, das die Rechenschaft unseres Tuns betrifft (vgl. nur Röm 14,22; 1 Kor 11,28; 2 Kor 13,5, Gal 6,14). Es geht dabei wirklich um alles: Es soll nichts von einer kritischen Betrachtung ausgenommen werden. Später werden Paulus und die spirituelle Tradition dies „Unterscheidung der Geister“ nennen (vgl. 1 Kor 12,10; 14,29; Phil 1,10). Nicht jedes Wort eines Propheten ist richtig und muss bedingungslos angenommen werden. Dies gilt vor allem auch im Blick auf eine ethische Bewertung.

Wo ist aber das Kriterium für diese kritische Beurteilung? Inspirationen und Anregungen, Weisungen und Normen gibt es auf vielgestaltige Weise im Evangelium. In unserem Zusammenhang sagt es Paulus knapp und klar: „Wer aber prophetisch redet, redet zum Menschen: Er baut auf, ermutigt, spendet Trost.“ (1 Kor 14,3) Das Wort von der „Auferbauung“ ist hier wichtig. Vielleicht haben wir am schnellsten Zugang, wenn wir es mit einem Wort unseres Alltags in Zusammenhang bringen, dass wir nämlich unser Urteil danach ausrichten ob etwas dem Menschen dient, ihm wirklich nützt und in diesem Sinne „konstruktiv“, aufbauend ist. So sagt Paulus im unmittelbaren Umfeld unserer Stelle, wenn man es mit der Luther-Übersetzung formuliert: „Darum ermahnt euch untereinander, und einer erbaue den andern, wie ihr auch tut.“ (5,11)

Dabei geht es natürlich nicht um einen oberflächlichen Nutzen oder gar um den Profit, auf den jemand aus ist. Damit es wirklich „konstruktiv“ ist, muss es auch immer schon für alle förderlich sein. Denn nicht selten - und dies ist offenbar immer wieder die Verführung des menschlichen Geistes - kommt das Böse in faszinierender Gestalt einher. Luzifer heißt ja ursprünglich Lichtträger. Aber dieses täuschende, schillernde Licht ist oft ein Irrlicht, das in die falsche Richtung führt. Gerade darum schärft uns Paulus ein: „Meidet das Böse in jeder Gestalt!“ Es kommt wirklich immer wieder als faszinierende Versuchung auf uns zu. Die Versuchungen Jesu zeigen uns exemplarisch, wie dies besonders in allen Fragen des Strebens nach Macht, Besitz sowie Reichtum und Ansehen im Sinne von Prestige und Ruhm der Fall ist (vgl. Mt 4,1-11). Manche Weltbeglückung hat sich nicht zuletzt deshalb auch am Ende in Gewalttätigkeit und Zerstörung aufgelöst. Es spricht für die Beobachtungsgabe und die seelsorgliche Erfahrung, aber auch die Menschenkenntnis, wenn Paulus uns vor diesem Bösen „in jeder Gestalt“ warnt. Er kennt den Menschen und weiß, was in ihm steckt.

Die notwendige Prüfung von allem, die hier vom Menschen verlangt wird, kann zu einem verschiedenen Urteil gelangen. Man muss mit Einsicht und Erfahrung - für die Christen mit dem Beistand des Gottesgeistes - das Gute und das Richtige in der Konkurrenz der geistigen Prägungen einer Zeit finden. Wenn aber etwas als hilfreich und konstruktiv für den Menschen erkannt ist, soll man es „festhalten“ (5,21; vgl. auch 1 Kor 11,2; 15,2; Lk 8,15; Hebr 3,6.14; 10,23). Sonst können uns wertvolle Einsichten und Errungenschaften des Menschen und der Menschheit auch verloren gehen. Es ist der Sinn des recht verstandenen „Bewahrens“, dass man Konstruktives und Gelungenes, das sich für die Menschen bewährt hat, auch wirklich festhält,  indem man es nicht nur hütet, sondern pflegt und weitergibt. So etwas nennen wir auch Werte. Wir dürfen sie nicht einfach verschleudern, vergessen oder gar umfunktionieren.

Bei unserer beschleunigten Lebensweise, der Hektik der Geschäfte und dem Dickicht der Interessen, alles auch nochmals verbunden mit raffinierten Tricks, kommt es ganz besonders darauf an, dass wir das festhalten und bewahren, was sich - jedenfalls auf Dauer - bewährt hat und bewährt. Im Grunde und von Hause her ist es Gott selbst, der uns kritisch beurteilt. So sagt Gott im Blick auf den Propheten: „Zum Prüfer für mein Volk habe ich dich bestellt; du sollst sein Verhalten erkennen und prüfen.“ (Jer 6,27) Gott übergibt aber diese Kompetenz zum Prüfen auch uns Menschen. Im konkreten Fall durch den Geist der ganzen Gemeinde, Einzelnen und besonders dem Gewissen (vgl. auch Jer 11,20).

Paulus spricht knapp und dennoch präzise. Er gibt ganz einfache und allgemeingültige Regeln menschlichen Zusammenlebens, die freilich durch das Wirken des Gottesgeistes und die Gabe der Unterscheidung der Geister ein neues Vorzeichen erhalten. Aber es sind Regeln, die auch sonst unser Leben bestimmen: Das Volk hat in der Wahl zum Bundestag - so hoffen wir - alles geprüft. Die alten und künftigen Regierungsparteien haben in den Koalitionsvereinbarungen - auch wiederum hoffentlich - von den äußeren Reformen bis zur Bildung alles geprüft und - so hoffen wir - das Gute behalten. Die Opposition ist dazu da, um dies alles nochmals daraufhin zu prüfen, ob es wirklich konstruktiv ist.

Der kleine Satz des Paulus „Prüft alles, und behaltet das Gute!“ ist also höchst aktuell. Er betrifft unser alltägliches Leben. Er fordert uns aber sehr grundlegend heraus, wenn wir uns wirklich einer Prüfung auf Herz und Nieren stellen. Ich denke an die schwindenden Wertüberzeugungen in unserer Gesellschaft, die wachsende Kriminalität, die Gefahren für unsere Sozialsysteme. Die staatliche Gemeinschaft muss gewiss auch offen sein für die Vielfalt der neuen Lebensformen. Aber sie darf sich auch nicht dazu verführen lassen, z. B. den besonderen Schutz von Ehe und Familie zu vermindern. Dabei gilt, was ein Verfassungsrechtler vor kurzem so formuliert hat: „Die altbewährten Formen sozialer Gemeinschaftsbildung genießen einen Vorrang vor dem Neuen, das erst noch zur gemeinschaftsbildenden Bewährung ansteht.“ (U. Di Fabio, in: FAZ vom 12.10.2002, S. 7)

Wir haben also alle je an unserem Ort genug zu tun. Auch wenn die Prüfung im Einzelnen uns noch viele Sorgen und Kopfzerbrechen verursacht, so wissen wir doch grundsätzlich, in welche Richtung unser Bemühen geht. Ich möchte nochmals Paulus aus dem Kontext sprechen lassen: „Wir bitten euch Brüder (und Schwestern): Erkennt die unter euch an, die sich solche Mühe geben, euch im Namen des Herrn zu leiten und zum Rechten anzuhalten. Achtet sie hoch, und liebt sie wegen ihres Wirkens! Haltet Frieden untereinander! ... Weist die zurecht, die ein unordentliches Leben führen, ermutigt die Ängstlichen, nehmt euch der Schwachen an, seid geduldig mit allen! Seht zu, dass keiner dem andern Böses mit Bösem vergilt, sondern bemüht euch immer einander und allen Gutes zu tun.“ (5,12-15)

Dies wünschen die Kirchen und die Christen in unserem Land Ihnen, den Damen und Herren Abgeordneten des Deutschen Bundestages sowie besonders auch den Mitgliedern der Bundesregierung. Dafür wollen wir in diesem Gottesdienst besonders beten und den Segen Gottes auf alle herabrufen. Amen.

Hannover, 17. Oktober 2002
Pressestelle der EKD