Gemeinsames Wort des EKD-Ratsvorsitzenden, Manfred Kock, und des Vorsitzenden der DBK, Karl Kardinal Lehmann, zum 50. Jahrestag des 17. Juni 1953

16. Juni 2003

In einem gemeinsamen Wort gedenken die Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Deutschen Bischofkonferenz (DBK) der Opfer des Volksaufstandes am 17. Juni 1953. Der 17. Juni bleibe „ein Symbol der Zivilcourage und des Einsatzes für Menschenrechte, Selbstbestimmung, Glaubens- und Gewissenfreiheit“, so Manfred Kock und Kardinal Karl Lehmann. Sie würdigen das Standhalten vieler Christen in der DDR gegen die Repressalien der SED. Die Kirchen hätten „mit ihrem Kampf um Freiheit zu den Wegbereitern des 17. Juni“ gehört, so Kock und Lehmann. Die Erinnerung an den 17. Juni sei nicht nur von der leidvollen Erfahrung der jahrzehntelangen Teilung Deutschlands geprägt, sondern auch verbunden mit dem Dank für die am 3. Oktober 1990 gewonnene "Einheit in Freiheit".

Hannover / Bonn, 16. Juni 2003
Pressestelle der EKD    
Pressestelle der Deutschen Bischofskonferenz

Das gemeinsame Wort im Originaltext:

Wir gedenken heute der Opfer des Volksaufstandes in Ost - Berlin und in der DDR vom 17. Juni 1953. Die Bilder des ungleichen Kampfes verzweifelter Arbeiter gegen sowjetische Panzer haben sich in unser Gedächtnis tief eingeprägt. Über hundert Demonstranten wurden damals getötet, über tausend als „Politische Häftlinge“ eingesperrt; Hunderttausende flüchteten. Ihre Forderung nach Reformen im Arbeitsleben, ihre Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung und ihr Ruf nach Wiederherstellung der deutschen Einheit wurde zwar gewaltsam unterdrückt, aber nicht zum Verstummen gebracht.

Katholiken und Protestanten in der DDR, vor allem auch engagierte Mitglieder der Jungen Gemeinden und der Studentengemeinden, wehrten sich damals gegen die SED, die verfassungswidrig das Christentum unterdrückte, um es durch die materialistische Weltanschauung zu ersetzen. Viele junge Menschen wurden kriminalisiert, von den Schulen und Hochschulen verwiesen, manche verhaftet. Die Christen in der DDR ließen sich durch diesen Kampf gegen die Kirche nicht einschüchtern. Aus taktischen Gesichtspunkten nahm die DDR-Regierung am 10. Juni 1953 eine überraschende, wenn auch nur vorübergehende Änderung ihrer Politik gegenüber den evangelischen Kirchen vor, aus der sich eine grundsätzliche Verbesserung der Situation der Kirchen und ihrer Mitglieder hätte ergeben können. So standen die Kirchen am 17. Juni 1953 zwar nicht in der ersten Reihe der Aufständischen, sie gehörten gleichwohl mit ihrem Kampf um Freiheit zu den Wegbereitern des 17. Juni. Sie solidarisierten sich uneingeschränkt mit den Opfern des Aufstands und forderten die Freilassung der nach dem 17. Juni Verhafteten.

Wenn wir heute den 50. Jahrestag des 17. Juni begehen, dann gedenken wir der vielen Unbekannten, die für ihre Rechte und zugleich für die Freiheit in ihrem Lande eintraten und unter der Niederschlagung des Volksaufstandes gelitten haben. Diese unverwechselbaren Lebensgeschichten, diese Geschichten von Willkür und Solidarität, von Ohnmacht und Mut, von Angst und von Hoffnung dürfen nicht in Vergessenheit geraten.

Wir erinnern an diesem Tag aber nicht nur an die leidvollen Erfahrungen, die sich aus der jahrzehntelangen Teilung Deutschlands ergaben, sondern danken zugleich für die am 3. Oktober 1990 gewonnene Einheit in Freiheit. Der 17. Juni, in der Bundesrepublik von 1953 bis 1990 als „Tag der deutschen Einheit“ gesetzlicher Feiertag, der 13. August 1961, an dem die Mauer gebaut wurde, der 9. November 1989, an dem die Mauer zum Einsturz gebracht wurde, und der 3. Oktober 1990 stehen in einem inneren Zusammenhang.

Für die Menschen im geteilten Deutschland war das Gedenken an den 17. Juni von gegensätzlichen Emotionen bestimmt. Für die Kirchen war er immer Anlass zu Besinnung und Gebet, insbesondere auch zu der Aufforderung, die Brücke zwischen Ost und West weiter zu festigen. Das Wort des Rates der EKD vom 12. Juni 1953 schloss mit dem Aufruf: „Das Ziel, dass wir in Freiheit und echtem Frieden wieder ein einiges deutsches Volk werden, liegt noch in weiter Ferne, wenn wir auch hoffen, dass Gott uns diesem Ziel Schritt für Schritt näher bringt. ... Wir wollen nicht müde werden, die Hände zu Ihm zu erheben und für die Zukunft von Volk und Kirche seine Gnade zu erbitten.“ Die katholischen Christen haben dem dreimal täglich gebeteten „Engel des Herrn“ jahrzehntelang die Fürbitte angefügt: „Dass du der Kirche die Freiheit, unserem Volk die Einheit und der Welt den Frieden schenken wollest.“

Die Belastungen aus der geteilten Vergangenheit sind weitreichender und größer als viele für möglich gehalten haben. Die menschlichen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen und Probleme der deutschen Teilung sind trotz gewaltiger Anstrengungen noch längst nicht überwunden. Die Erinnerung an den 17. Juni ist deshalb auch eine Aufforderung an uns alle, in den Bemühungen, die  innere Einheit Deutschlands voranzubringen, nicht nachzulassen.

So bleibt dieser Tag ein Symbol der Zivilcourage und des Einsatzes für Menschenrechte, Selbstbestimmung, Glaubens- und Gewissensfreiheit. Papst Johannes Paul II. hat sich bei seinem Besuch in Deutschland 1996 am Brandenburger Tor, dem Symbol für Freiheit, mit einem vierfachen Appell verabschiedet: Es gibt keine Freiheit ohne Wahrheit. Es gibt keine Freiheit ohne Solidarität. Es gibt keine Freiheit ohne Opfer. Es gibt keine Freiheit ohne Liebe.
Die gemeinsame Erinnerung an den 17. Juni 1953 mahnt uns, Solidarität und Opfer, Wahrheit und Liebe, die zusammengehören, nicht von einander zu trennen.