"Wir müssen weiter Geduld miteinander haben"

Erklärung des EKD-Ratsvorsitzenden, Präses Manfred Kock, zum 10. Jahrestag der Wiedervereinigung Deutschlands

3. Oktober 2000

Zehn Jahre nach der friedlichen Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands ist die Freude in der evangelischen Kirche ungeteilt: Die politische Spaltung unseres Landes ist überwunden, die Ost-West-Konfrontation in Europa und die mit ihr verbundene Gefahr eines großen Krieges bestehen nicht mehr. Die Behinderungen und Belastungen des Lebens in einem geteilten Land erscheinen heute nur noch wie ein schlechter Traum.

Die evangelischen Kirchen hatten in der Zeit politisch erzwungener Trennung ihre in den jeweiligen Grundordnungen verankerte "besondere Gemeinschaft" nachhaltig gepflegt. Das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit der Deutschen war durch vielfältige Partnerschaften zwischen Kirchengemeinden lebendig geblieben. In den Begegnungen war das Verlangen nach Einheit über die Jahre hinweg spürbar.

Die Evangelische Kirche in der damaligen DDR hatte beim Zusammenbruch des SED-Regimes maßgeblichen Anteil am Gelingen der friedlichen Revolution. Zahlreiche Kirchengemeinden hatten unter Ausnutzung ihrer begrenzten Spielräume einzelne Regimekritiker unterstützt und Bürgerrechtsinitiativen Versammlungsräume zur Verfügung gestellt. Die Friedensgebete in der Verantwortung der Gemeinden wurden zu öffentlichen Bekundungen des Wunsches nach friedlichen Veränderungen. Sie waren immer auch seelsorgerliche Sammelpunkte für Ausreisewillige.

Vor zehn Jahren gab es die Erwartung, mit der Vereinigung würde Deutschland protestantischer. Heute stellen wir nüchtern fest, dass sich der längst erkennbare Traditionsabbruch in der Weitergabe des Glaubens in West und Ost fortgesetzt hat. Für die evangelische Kirche geht es darum, in Familie und Schule, Gemeinde und Öffentlichkeit der missionarischen Aufgabe die oberste Priorität zu geben. Die ermutigende Botschaft des Evangeliums soll unter die Leute gebracht werden, denn viele Menschen empfinden sich als Verlierer wirtschaftlicher Umbrüche.

Die Lage scheint widersprüchlich. In den neuen Bundesländern wurden beeindruckende Aufbauleistungen erbracht: Vom Verfall bedrohte Gebäude sind renoviert, Straßen und Schienenwege ausgebaut, Umweltgefährdungen verringert. Dennoch entwickelt sich die Wirtschaft in den neuen Bundesländern schleppend. Mehr Menschen ziehen aus ostdeutschen Kommunen weg als dort zuwandern. Die Zahl der Geburten verharrt auf einem niedrigen Niveau. Die Schülerzahlen sinken überdurchschnittlich. Zehn Jahre nach der Wiedervereinigung wächst die Einsicht: Große Herausforderungen verlangen einen langen Atem. Wir müssen weiter Geduld miteinander haben: - der Osten mit dem Westen, wenn die Klage über die noch lange Zeit erforderlichen Transferleistungen wieder einmal laut wird, - der Westen mit dem Osten, wenn die verständliche Ungeduld über nicht bewältigte Probleme der Wiedervereinigung umschlägt in Wehleidigkeit und Resignation.

Völlig einheitliche Lebensverhältnisse hat es in Deutschland nie gegeben. Deshalb wird es auch in Zukunft einen Ausgleich zwischen begünstigten und benachteiligten Regionen geben müssen. Aber wir dürfen nicht hinnehmen, dass das Gefälle zwischen West und Ost auf Dauer größer bleibt als die bestehenden Unterschiede zwischen den verschiedenen Regionen Westdeutschlands.

Hannover, 28. September 2000
Pressestelle der EKD