"Statement zur Eröffnung der Woche der ausländischen Mitbürger am 23. September 2000 in Hannover"

Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Karl Lehmann

23. September 2000

Wenn wir heute zum 25. Male die "Woche der ausländischen Mitbürger" - diesmal unter dem Motto "Die Würde des Menschen ist unantastbar" - eröffnen, dann geschieht das auf einem ganz besonderen Hintergrund. Rassismus und Ausländerfeindlichkeit sind in erschreckendem Maße in unserem Lande wieder sichtbar geworden. Allein in diesem Jahr sind schon sieben Tote sowie mehrere hundert Menschen zu betrauern, die Opfer von Fremdenhass geworden sind.

Im persönlichen, nachbarschaftlichen Bereich durch Begegnungen und Kontakte zu einem besseren Verständnis zu kommen und zum Abbau von Vorurteilen beizutragen, dies war von Anfang an das Ziel der "Woche der ausländischen Mitbürger". Nur wenn man sich begegnet, wenn man sich gegenseitig ansieht und kennenlernt, kann man Verständnis für eine andere Kultur, andere Lebensgewohnheiten und Schicksale anderer Menschen entwickeln. Dieses ist Voraussetzung für ein friedliches und von Respekt getragenes Zusammenleben.

Durch Feste und Begegnungen sowie Theater? und Filmvorführungen und Lesungen von ausländischen Künstlern soll dieses gegenseitige Verständnis entstehen und wachsen. Das Engagement in den Pfarr- bzw. Kirchengemeinden für Ausländer und Flüchtlinge ist gewachsen. Zahlreiche Kirchengemeinden laden Ausländerinnen und Ausländer zu Begegnungen und Gottesdiensten ein. Viele muttersprachliche Gemeinden beteiligen sich an der "Woche der ausländischen Mitbürger". Allein auf katholischer Seite gibt es in Deutschland fast 600 muttersprachliche Gemeinden, die von mehr als 500 ausländischen Priestern betreut werden. Viele dieser Priester sind wie selbstverständlich auch in den katholischen Ortsgemeinden tätig. Jahr für Jahr finden in Deutschland mehrere tausend Veranstaltungen statt.

Aus einer ursprünglich rein kirchlichen Initiative ist mittlerweile längst eine gesellschaftliche geworden: Auch Gewerkschaften, Ausländerinitiativen, Kommunen und Initiativgruppen führen Veranstaltungen durch. Jahr für Jahr zählt der Ökumenische Vorbereitungsausschuss rund 2.000 Veranstaltungen an mehreren hundert Orten in Deutschland. Mehrere hunderttausend Menschen nehmen an der Woche teil. Den Kirchen ist es gelungen eine Initiative anzustoßen, die weit über ihren eigenen Bereich hinausgeht und eine feste Verankerung in unserer Gesellschaft gefunden hat. Zwar gibt es heute nach wie vor ein erschreckend hohes Maß an Fremdenfeindlichkeit in der Bevölkerung. Im Vergleich zu 1975 ist jedoch festzustellen, dass das Engagement an der Basis für Ausländer und Flüchtlinge auch in einem erfreulichen Maße gewachsen ist.

Die "Woche der ausländischen Mitbürger" ist auch eine öffentliche Demonstration. Wir bekunden unsere Solidarität, ermuntern zu einem offenen und ungezwungenen Umgang mit Menschen anderer Kulturen und hoffen, dass dies auf möglichst viele ansteckend wirkt. Wir müssen offen zeigen, dass wir auch in den ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern unsere Schwestern und Brüder sehen. Für und in der Kirche gibt es keine Fremden. Alle Menschen sind gleichermaßen von Gott geschaffen, angenommen und geliebt.

Die Gewalttaten und Diskriminierungen gegenüber ausländischen Mitbürgern, aber auch gegenüber Obdachlosen und Behinderten bedrücken uns sehr. Sie lassen sich nicht allein mit polizeilichen Maßnahmen bekämpfen - so wichtig diese sind. Wir müssen nach den Ursachen fragen; wir müssen fragen, weshalb gerade junge Menschen sich zu solchen Gewalttaten hinreißen lassen. Aber es ist nicht nur ein Jugendproblem. Manche Jugendliche fühlen sich bei ihrem Hass auf alles Andersartige von Erwachsenen ermuntert und unterstützt.

Lange Zeit gab es viel Beschwichtigung und Vertröstung, aber auch Verharmlosung und Wegsehen. Jene, die sich schon früh gegen Gewalt und Ausländerfeindlichkeit engagierten, wurden oft nicht hinreichend ernst genommen, zuweilen als "Gutmenschen" belächelt und diskreditiert. Auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kirchen haben solche persönlichen Erfahrungen gemacht.

Angst, Ausgrenzung und Hass können eine Gesellschaft auf Dauer nicht tragen. Hierüber muss gesprochen werden. Dabei sollten sich jedoch auch berechtigte Sorgen und Ängste artikulieren dürfen. Fremdenangst darf nicht automatisch zum Vorwurf von Fremdenfeindlichkeit führen. Deshalb müssen auch Schwierigkeiten und Probleme offen angesprochen werden. Wenn dies unterbleibt, machen sich Vorbehalte und Ängste unkontrolliert Luft. Der Stammtisch ist der falsche Ort, diese Themen angemessen zu behandeln.

Unser Land benötigt eine größere Verantwortungsbasis und damit mehr denn je eine menschlich respektvolle, sachlich und nachdenklich geführte gesamtgesellschaftliche Debatte über die Zukunft Deutschlands im Zeitalter der Globalisierung und Migrationen sowie über die integrationspolitischen Herausforderungen, die mit der Zuwanderung verbunden sind. Solch ein gesamtgesellschaftlicher Reflexionsprozess muss konzeptionell umfassend angelegt sein, anstatt immer nur punktuell und bruchstückhaft aufzubrechen. Er bedarf aber auch der sensiblen politischen Führung.

Die christlichen Kirchen haben in den zurückliegenden Jahren die Herausforderungen durch Migration und Flucht im Blick auf eine verschärfte Ausländerpolitik immer wieder öffentlich gemacht. Dies hat auch darin Ausdruck gefunden, dass in der "Woche der ausländischen Mitbürger" mit dem Tag des Flüchtlings auf die besondere Problematik von Flüchtlingen hingewiesen wird. So unter anderem mit dem 1997 erschienenen Gemeinsamen Wort "... und der Fremdling, der in deinen Toren ist".

Christliches Dasein in Wort und Tat fordert dazu auf, sich dafür einzusetzen, dass jede Diskriminierung, die sich gegen Hautfarbe, Kultur oder Religion eines Menschen richtet, als dem Willen Gottes entgegenstehend zurückgewiesen wird; es heißt, Zeugnis zu geben für ein geschwisterliches Leben auf der Grundlage des Evangeliums, die kulturellen Verschiedenheiten zu achten und offen zu sein für den aufrichtigen, vertrauensvollen Dialog.

Die zurückliegenden 25 Jahre der "Woche der ausländischen Mitbürger", die seit rund 10 Jahren auch an vielen Orten Ostdeutschlands durchgeführt wird, sind für uns ein Anlass, allen denen zu danken, die sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten für Menschen anderer Sprache und Herkunft sowie ihre Rechte und Würde eingesetzt haben und bereit waren und bereit bleiben, auch künftig öffentlich dafür einzustehen.

Hinweis:

In jedem Jahr findet die "Woche der ausländischen Mitbürger" unter einem bestimmten Motto statt. Diese lauteten in den zurückliegenden Jahren:

1975: "Miteinander für Gerechtigkeit"

1978: "Für eine gemeinsame Zukunft"

1980: "Verschiedene Kulturen - Gleiche Rechte.
Für eine gemeinsame Zukunft"

1982/1983: "Ängste überwinden - zur Nachbarschaft finden"

1984/1985: "Nachbarschaft, die Frieden schafft"

1986/1987/1988: "Gemeinsam leben, gemeinsam entscheiden"

1989/1990: "Die Würde des Menschen ist unantastbar"

1991/1992: "Viele Kulturen - eine Zukunft"

1993/1994: "Frieden gestalten - Gewalt überwinden"

1995/1996: "Miteinander für Gerechtigkeit"

1997/1998: "Offen für Europa - offen für andere"

1999/2000: "Die Würde des Menschen ist unantastbar"

Hannover, 23. September 2000
Pressestelle der EKD