Geistliche Besinnung im Ökumenischen Gottesdienst anlässlich der 25. "Woche der ausländischen Mitbürger" in der Marktkirche in Hannover am 23. September 2000

Bischof Karl Lehmann, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz

23. September 2000

Die Menschen verfügen über immer mehr Möglichkeiten, ihr Leben zum Guten wie zum Bösen hin zu beeinflussen. Weil die Ehre und Würde des Menschen nicht selten bedroht sind, sehen sich die Kirchen herausgefordert, auf der Grundlage des christlichen Glaubens gemeinsam über die Gefährdungen des menschlichen Lebens in der Gegenwart zu sprechen und dabei auch umstrittene Fragen der politischen Gestaltung nicht auszuklammern.

Der christliche Glaube weiß, dass Gott der Ursprung allen Lebens ist und dass er das Leben bewahrt und erhält: "Alle Augen warten auf Dich, und Du gibst ihnen Speise zur rechten Zeit. Du öffnest Deine Hand und sättigst alles, was lebt, nach Deinem Gefallen" (Psalm 145, 15 f.). Der Mensch lebt aus der Liebe Gottes. Zwar erfährt und weiß jeder, wie sehr man darauf angewiesen ist, die Zuneigung anderer zu gewinnen, doch gewinnt das Leben seinen Wert nicht darin, dass andere Menschen und ihre Liebe da sind. Seinen Wert und Sinn erhält menschliches Leben zuerst durch die Nähe Gottes.

Die Bibel erzählt von der Erschaffung der Welt. Sie nennt den Menschen "Bild Gottes" (Gen/1 Mose 1,26 f.) Darin sehen Juden und Christen die Würde menschlichen Lebens begründet. Es ist Gottes Ebenbild.

Unter den Geboten Gottes gibt es wenige, die dem Schutzgebot gegenüber Fremden und Flüchtlingen an Gewicht und Eindeutigkeit gleichkommen. Die Fremden stehen unter dem unbedingten Schutz Gottes. Der Begründungszusammenhang liegt in den Erfahrungen, die Israel in der Fremde gemacht hat: "Einen Fremden sollst du nicht ausbeuten. Ihr wisst doch, wie es einem Fremden zumute ist; denn ihr selbst seid in Ägypten Fremde gewesen." (Ex/2 Mose 23,9). Israel kann sich in die Situation, in das innerste Fühlen von Fremden hineinversetzen; darum ist ihm zuzumuten und von ihm zu erwarten, dass es mit Fremden so umgeht, wie es recht ist und wie es Gott will.

In der Selbstoffenbarung Gottes im 1. Gebot stellt er sein befreiendes Handeln vor: "Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat; aus dem Sklavenhaus. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben." (Ex/2 Mose 20,2.3). Dieses 1. Gebot macht die Befreiung von Sklaverei und Unterdrückung zur unvergesslichen und unablösbaren Eigenschaft Gottes. Darum rücken Fremde, also Menschen, die von Gleichgültigkeit, Missachtung und Unterdrückung bedroht sind, in die Mitte der Schutzbestimmungen Gottes. Das Schutzgebot gegenüber Fremden durchzieht wie ein roter Faden die Sammlung der Gebote des Alten Testamentes:
"Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen. Ich bin der Herr, euer Gott." (Lev/3 Mose 19,33 f). Dies sind ungeheuere Sätze, die die Nächstenliebe auch auf die Fremden ausdehnen - kulturgeschichtlich ein unglaublicher Sprung, den wir immer wieder uns aneignen müssen.

Der theologische Rang dieser Gebote im Alten Testament ist eindeutig. Schutz der Fremden, Liebe zu den Fremden und Gastrechte sind in der Mitte alttestamentlicher Theologie verwurzelt. Die Befreiung aus Ägypten und der Bund Gottes mit seinem Volk begründen die Identität Israels, die den Schutz der Fremden und die Achtung ihrer Rechte einschließt.

Ein altes Glaubensbekenntnis fasst die Erfahrung zusammen. Bei der Darbringung der Erstlingsfrüchte sollte jeder Israelit bekennen: "Mein Vater war ein heimatloser Aramäer. Er zog nach Ägypten, lebte dort als Fremder mit wenigen Leuten und wurde dort zu einem großen, mächtigen und zahlreichen Volk. Die Ägypter behandelten uns schlecht, machten uns rechtlos und legten uns harte Fronarbeit auf. Wir schrien zum Herrn, dem Gott unserer Väter, und der Herr hörte unser Schreien und sah unsere Rechtlosigkeit, unsere Arbeitslast und unsere Bedrängnis. Der Herr führte uns mit starker Hand und hocherhobenem Arm, unter großem Schrecken, unter Zeichen und Wundern aus Ägypten, er brachte uns an diese Stätte und gab uns dieses Land, ein Land, in dem Milch und Honig fließen." (Deut/5 Mose 26,5-9).

Auf diesem Fundament stehen auch wir mit unseren heutigen Bemühungen um die Annahme des Fremden. Wir brauchen gerade in Zeiten des Fremdenhasses einen starken, widerstandfähigen Grund zur Abwehr von Abneigung und Ablehnung.

Hannover, 23. September 2000
Pressestelle der EKD