Ansprache zur Woche der Brüderlichkeit

EKD-Ratsvorsitzender, Präses Manfred Kock

18. März 2000

Gemeinschaftsfeier am 18. März 2000

 Psalm 85

"Psalmen, Nachtherbergen für die Wegwunden", sagt Nelly Sachs in ihrem Davidgedicht. Nachtherbergen für uns. Sie bergen uns und heilen mit den Bildern ihrer Sprache. Sie schenken Ruhe und Trost in den Spiegelungen ihrer uralten Erfahrung. "Gottes Freiheit, Gottes Hilfe ist nahe" betet der Psalm. Ein Glaubensschatz ist das, geformt in gebeteter und gefeierter Liturgie des Bundesvolkes. Der Menschheit geschenkt.

Erinnern - klagen - hoffen, so baut sich der Rhythmus des Gedichtes auf.

1. Erinnern

"Begnadet hast du einst dein Land, hast den Fehl deines Volkes getragen, du", heißt es in der Psalmübertragung Martin Bubers.

So oder ähnlich sprechen viele Psalmen. Die Betenden tragen vor Gott, wie sie ihn wahrnehmen in ihrer Erinnerung: befreiend, heilbringend, heilend. Zurückkehren durften sie aus bedrückendem Exil, heimkehren in das Land der Väter und Mütter, "du hast für Jakob die Wiederkehr kehren lassen". Der gerechte Gott hatte der Barmherzigkeit den größeren Raum gegeben.

Erinnerungen an Spuren im Leben haben auch wir, Spuren von Güte und Ermutigung, von neuem Anfang. Wo aber bleiben die Erfahrungen von Güte und Barmherzigkeit, wenn die Schmerzen von Trennung und Abschied die Gefühle beherrschen? Manchmal sind wir wie gelähmt, wenn wir zurückblicken. Wir wirken mit in den Vollzügen unseres Lebens: Produktion, Verwaltung, Wissenschaft. Die Daten ökonomischer Entwicklung, die Strukturelemente sozialer Planung, die Kennziffern von Arbeit und öffentlichem Handeln, wir vollziehen das nach oder gestalten es mit - und sind doch irritiert, weil die Ziele verschwimmen. Was trägt unser Dasein? Was gibt Sinn und Ziel? Und wozu? fragen viele immer wieder. Diese Fragen lasten wie ein Joch auf dem Nacken.

2. Klage

So stimmen wir ein in die Klage: "Laß ab von deinem Unmut über uns". Der Psalm analysiert nicht, welche Mächte die Wehmut produzieren und der Sache Gottes im Wege stehen. Der Beter des Psalms betrachtet nicht die objektiven Strukturen, die politischen, soziologischen und sozialpsychologischen Bedingungen der Widersprüche seiner Zeit. Für uns betet der Psalm. Zu Gott wendet er sich klagend: "Laß ab von deinem Unmut über uns. Willst du in Weltzeit, willst du ewig uns zürnen?" Eigene Schuld gesteht der Psalmbeter ein und bestürmt den Ewigen, den neuen Anfang zu schenken. Er resigniert nicht, er kann sich klagend an Gott wenden, ihn bestürmen. Denn Gott hat ja selbst die Hoffnung gestiftet.

Und dann eröffnet die Liturgie des Psalms den dritten Teil.

3. Hoffnung

"Horchen will ich, was der Gott - Herr, redet, ER. Ja, er redet Frieden zu seinem Volk". Eine große Sehnsucht spricht aus diesen Worten und eine Gewissheit. "Ehre für die Erde. Huld und Treue treffen einander, Wahrhaftigkeit und Frieden küssen sich". Könnten wir doch hören das Wort vom Frieden in unserer Zeit. Wir brauchen es im Kosovo und in Indonesien, in Tschetschenien, im Sudan. Könnten wir doch hören das Wort vom Frieden an den vielen Orten der Gewalt, deren Namen niemand kennt, an denen namenlos gelitten und gestorben wird. Ein Wort vom Frieden, dass die Leidenden nicht ohne Hoffnung bleiben. Ein Wort des Friedens gegen den gewalttätigen Lärm der Bomben und Granaten.

Hören können wir das Wort vom Frieden! Wir können es uns nicht selber sagen. Der Kreislauf von Gewalt und Hass macht Menschen stumm. Die Wunden von erlittener Gewalt wollen nicht heilen. Alte Schuld steht immer zwischen uns Menschen. Gott muss selber reden. Er selbst bringt einen neuen Klang in die Welt der Gewalt. Wir Menschen können nur Zeugen sein. Wir können sein Wort vom Frieden und von der Hoffnung nachsprechen. Wir können als Zeugen nur zusammentragen, was wir vom Frieden Gottes erkennen durften, und dankbar staunen über das, was andere gesehen und erkannt haben. Das Zeugnis des Friedens können wir so einander geben. Der Welt können wir mit unserem gemeinsamen Zeugnis dienen.

Friede herrscht, wo die Beziehungen von Güte und Treue und Gerechtigkeit geprägt sind. Es geht dabei um die Beziehung zu unserem Schöpfer, zu unserem Mitmenschen und zu unserer Mitwelt. Am Maßstab der Gerechtigkeit, der "Wahrhaftigkeit", übersetzt M. Buber, muss sich der Friede messen lassen. An den Lebensverhältnissen der Schwächsten, der Minderheiten und der Fremdlinge unter uns, entscheidet sich, ob Frieden herrscht.

Das Land gibt seine Frucht, betet der Psalm. Wie das tägliche Brot, so muss auch der Frieden täglich neu geschenkt und gewonnen werden. Frieden haben wir nicht auf Vorrat. Die Trägheit, die meint, sich auf Erreichtem ausruhen zu können, ist eine Feindin des Friedens. Wie die Frucht der Erde gedeiht, so wächst auch der Friede. Dieses Bild erinnert daran, dass es um harte Arbeit geht. Im Schweiße des Angesichts wird der Acker bestellt. Ähnlich harte Arbeit erfordert der Friede. Zur Bewahrung des Friedens gehört das stete Mühen um die Bewahrung der Gerechtigkeit. Oft von der Öffentlichkeit unbemerkt, leisten Menschen ihren Friedensdienst in mühevoller Kleinarbeit, begleitet von vielen Rückschlägen, oft sogar vergeblich, aber unermüdlich. Friedensarbeit ist nicht nur in den Konfliktregionen nötig. Wachsamkeit und Ausgleich brauchen wir auch hier. Die Spuren des Hasses, des Rassismus, der fundamentalistischen Rechthaberei sind unübersehbar. Wir brauchen Hoffnung für ein Zusammenleben in Würde, daran mahnt die "Woche der Brüderlichkeit". "Dass in unserem Lande der Ehrenschein wohne". Dahin verklärt sich die Klage: Hoffnungsvolle Verheißungen für die Erde und die Menschen. Auf dieses Bild hin sind wir ausgerichtet. So erhalten wir die Maße und Ziele für irdische Weltgestaltung. Die Bilder malen ein Modell der künftigen Welt. Sie sind der Anker unserer Hoffnung und Maßstab für Weltverantwortung. Hier klären sich Wehmut und Klage, "Gerechtigkeit geht vor Ihm her, folgt seinen Schritten". - So entkommt Gott unseren Zornesfantasien und unseren Klagen, wird Zuwendung, wird Friedensgott, liebend, werbend, suchend.

Psalmen sind Nachtherbergen für die Wegwunden, sagt Nelly Sachs. Orte, da unsere Lebenswunden heilen können, sogar unsere Gottesverletzungen, weil wir uns an diesem Ort dessen vergewissern können, worauf Gott in Wirklichkeit abzielt: Gerechtigkeit geht vor ihm her und folgt seinen Schritten.

Amen