Zum 100. Geburtstag von Gustav W. Heinemann am 23. Juli 1999

Der Präses der Synode der EKD, Dr. Jürgen Schmude

07. Juli 1999

Gustav W. Heinemann

Der Kirche galten seine Liebe und seine Ungeduld. In ihr wollte er - neben seinem Beruf - arbeiten. Als man ihn im April 1945 nach der Besetzung Essens durch die Alliierten für die Übernahme einer öffentlichen Aufgabe gewinnen will, schreibt er in sein Tagebuch, man wolle ihn von vielen Seiten einspannen, "aber ich denke nicht daran, etwas anderes anzufassen, als was mit Gemeinde und Kirche zusammenhängt".

Dabei ist es zum Glück nicht geblieben. Im zerstörten, auch moralisch verwüsteten Deutschland wurden Menschen gebraucht, die sich nicht in den Dienst der Diktatur gestellt hatten und jetzt den Wiederaufbau organisieren konnten. Heinemann erfüllte beide Voraussetzungen und versagte sich nicht. Die Liste seiner politischen Funktionen setzte früh ein, - 1945 war er Mitgründer der CDU in Essen und im Rheinland, - und füllte sich mit Positionen aus allen politischen Ebenen: Bürgermeister, Oberbürgermeister, Landtags- und später auch Bundestagsabgeordneter, Landes- und Bundesminister und schließlich, 30 Jahre vor seinem Freund Johannes Rau, Bundespräsident.

Seine Kirche vernachlässigte er darüber nicht. Ihr hatte er schon in den 30er Jahren und in der Kriegszeit wertvolle Dienste geleistet: als Presbyter und Kreissynodaler in Essen, als Mitglied des Bruderrats der Bekennenden Kirche in der Rheinprovinz, in Reichssynoden und im Essener CVJM, den er als Vorsitzender vor der sonst üblichen Auflösung bewahrte. In allen diesen Funktionen kämpfte er für die unverfälschte Verkündigung des Evangeliums durch die Kirche. Den Anfang der 30er Jahre in der Kirche vordringenden Deutschen Christen leistete er Widerstand, so heftig, daß es ihm mehrfach - mit Recht - als Opposition gegen den Nationalsozialismus angekreidet wurde. Dem Einfluß des Staates und der Nazipartei in der evangelischen Kirche trat er entgegen und forderte immer wieder strikte Trennung von Staat und Kirche; in ihrer Unabhängigkeit und ihrer ausschließlichen Orientierung am Evangelium sollte nichts die Kirche beeinträchtigen.

Ein früher Höhepunkt seines Wirkens in der Kirche, - übrigens stets neben anspruchsvoller Berufstätigkeit als Industriedirektor und später Rechtsanwalt, - war die Barmer Bekenntnissynode von 1934, zu der er gehörte. Die dort beschlossene theologische Erklärung, inzwischen weithin als kirchlicher Bekenntnistext akzeptiert, blieb für Heinemann "Wegweisung und Versprechen in eine Zukunft hinein, die für die Kirche immer noch und immer wieder Anfechtungen mit sich bringen wird." Daß Christen unter "Gottes kräftigem, Anspruch auf unser ganzes Leben" stehen und daß Staat und Kirche die Grenze zwischen ihren unterschiedlichen Aufgaben nicht überschreiten dürfen, das war nach Heinemanns Herzen.

Ähnlich weitreichende Bedeutung gewann für ihn die sog. Stuttgarter Schulderklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland vom Oktober 1945. Dieses von der deutschen Öffentlichkeit mit Unwillen aufgenommene Bekenntnis des Versagens und der Schuld in Kirche und Volk trägt Heinemanns Unterschrift. Damals war er bereits Mitglied des Rates der EKD, dem er, von 1949 bis 1955 als Präses der Synode, schließlich bis 1967 angehörte. Als Präsident der Kirchenversammlung, die 1948 die seither geltende Grundordnung der EKD beschlossen hat, hatte er an der Gründung einer einheitlichen und für alle evangelischen Landeskirchen handlungsfähigen EKD maßgeblichen Anteil. Auch diese kirchlichen Funktionen waren nur einige unter anderen, z.B. der Zugehörigkeit zur rheinischen Kirchenleitung (1945-1962), der Mitarbeit im engeren Präsidium des Kirchentages, den Heinemann selbst 1949 als ständigen Kirchentag proklamiert hat, und der intensiven Mitwirkung im Weltkirchenrat seit dessen Gründung 1948.

Der Blick auf die Fülle seiner Aufgaben läßt eine kaum vorstellbare Arbeitsleistung erkennen, die Gustav Heinemann in Kirche und Politik zu erbringen hatte. Spannungen aus dem Nebeneinander beider Bereiche blieben nicht aus, nachdem er, auch durch seinen Rücktritt als Bundesminister, gegen die Außen- und Verteidigungspolitik Bundeskanzler Adenauers protestiert hatte und mit einer - erfolglosen - eigenen Partei in Opposition zur CDU gegangen war. Dabei war es nicht Heinemanns Amtsführung als Präses der EKD-Synode oder in weiteren kirchlichen Ämtern, die Grund zum Anstoß gegeben hätte. Hier verhielt er sich untadelig, achtete sorgfältig auf unparteiische Amtsführung und vermied auch den Anschein, als gebrauche er sein kirchliches Ansehen zu politischen Zwecken. Aber daß ein prominenter Parteipolitiker und Kritiker des Kanzlers und seiner Partei das besondere Amt des Präses der EKD-Synode bekleidete, das erschien seinen innerkirchlichen Gegnern als ein Ärgernis, wie wenn das Amt vakant gewesen wäre. Heinemann kränkten solche Angriffe, die er als unverdient empfand. Daß die Synode ihn 1955 nicht wiederwählte, tat ihm weh. Daß er im politischen Bereich angegriffen und diffamiert wurde, nahm er hin. Von der Kirche aber hatte er erwartet, daß sie nicht auch noch in die öffentlichen Angriffe gegen ihn einstimmen würde, zumal die Verbindung mit dem Posten des Bundesministers bei seiner ersten Wahl 1949 als unbedenklich, ja sogar als willkommen angesehen worden war. Immerhin bestimmte die EKD-Synode ihn sogleich nach seiner Abwahl als Präses zum Mitglied des Rates und bestätigte ihn 1961 in dieser Funktion.

Bequem war Gustav Heinemann, der überaus aktive Christ in politischer Verantwortung und brillante Bundestagsredner, schon damals weder für Freunde noch für Gegner. Nachdrücklich wandte er sich gegen Versuche, eine Politikrichtung als christliche auszugeben und dabei das Christentum vorbehaltlos für den Antikommunismus zu vereinnahmen. Wie falsch ein solcher Weg sein mußte, machte er u.a. durch den berühmten Satz in einer Bundestagsrede 1958 klar, "daß Christus nicht gegen Karl Marx gestorben ist, sondern für uns alle." Nicht nur die daraufhin ausbrechende "Unruhe in der Mitte" (Bundestagsprotokoll) zeigte, wie sehr er sich damals mit solcher Einsicht im Gegensatz zu verbreiteten Auffassungen in der Politik und übrigens auch in der Kirche befand.

Dieser forderte er energisch ab, in wichtigen gesellschaftlichen und politischen Fragen vom Evangelium her das Wort zu ergreifen. Auch auf das Risiko hin, zu viel zu sagen, da doch "die Versuchung für die Kirche zu schweigen stets größer war als die, offen und frei zu reden und zu bekennen." Die Forderung nach Entpolitisierung der Kirche nahm er nicht hin, sondern ging ihr auf den Grund. Sie laufe auf das Gegenteil des Gesagten hinaus, auf Schweigegebote im Sinne von "Religion ist Privatsache" und Unterbindung kirchlicher Kritik an der herrschenden Politik. "Das wäre in Wahrheit die aller sublimste Form von Politisierung!" war Heinemanns Schlußfolgerung.

Den Unterschied zwischen synodaler Kirchenleitung und politischer Demokratie wußte er überzeugend herauszuarbeiten. Die dem Staatsbürger durch die Demokratie gebotenen Möglichkeiten aber nahm er nicht nur selbst in vollem Umfang war, sondern empfahl das als Angebot und Aufgabe ausdrücklich allen Christen. Er sähe "nach der politischen und geistigen Geschichte einen tiefen und echten Zusammenhang zwischen Demokratie und christlicher Kirche," und so sollten die Kirchen die "Demokratie nicht nur nolens volens ertragen, sondern als die menschenwürdigste Staatsform bejahen und mittragen". Das hat er als Christ in politischer Verantwortung vorgelebt, das hat er in immer neuen Variationen angemahnt. Die erst neun Jahre nach seinem Tod erschienene Demokratiedenkschrift der EKD (1985) ist in ihren Grundgedanken von ihm geprägt, ohne daß er am Text hätte mitarbeiten können. Folgerichtig wurde der Titel "Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe" dem Sprachgebrauch Heinemanns entnommen.

Nicht nur, wie ein Christ in der Demokratie - und für sie - an herausragender Stelle politisch arbeitet, hat Heinemann vorgelebt. Auch, wie er dabei sichtbar Christ bleibt, Botschafter des Evangeliums mit allem Respekt vor Menschen, die seinen Glauben nicht teilen. Für ihn saß über allem Erfolg oder Mißerfolg politischer Arbeit "Gott im Regimente", und allen weltlichen Machthabern galt sein Schlußsatz beim Essener Kirchentag 1950: "Eure Herren gehen, unser Herr aber kommt!"

Für seine evangelische Kirche mühte sich Heinemann ab, aber sie machte ihm auch Sorgen. Die Kirche habe allen Grund, sich trotz mancher Erfolge vor falscher Sicherheit zu bewahren und auch davor, durch staatliches Entgegenkommen und öffentliche Zuschüsse in Abhängigkeiten zu geraten. Die Kirchensteuer betrachtete er skeptisch, ohne daß er funktionstüchtige Alternativen anbot. Schon 1967 sprach er vom heraufziehenden Ende der Volkskirche alten Stils und von der Notwendigkeit völlig veränderter Formen von Gemeinde und seelsorgerlichem Dienst. Es sei eben der Christenheit nicht verheißen, in dieser Welt zu triumphieren, sondern daß sie der verlorene, "aber dennoch errettete Haufen ist".

Konfessionalismus erschien ihm als Übel. Bei der Reichssynode 1936 erklärte er, zugleich für andere, daß sie sich nicht an ein bestimmtes reformatorisches Bekenntnis binden wollten, sondern "Glieder der Kirche Jesu Christi zu sein beanspruchten". Die EKD hat er gewollt und als gemeinsamen Handlungsrahmen für alle Evangelischen in Deutschland geschaffen. Daß es daneben konfessionelle Bünde von evangelischen Landeskirchen geben sollte, fand er ebenso ärgerlich wie für die Zukunft bedenklich. Ein unverändert aktuelles Diskussionsthema.

Dankbar war er dafür, daß es der EKD-Synode in Berlin-Weißensee 1950 - unter seinem Vorsitz - gelungen war, ein in der Öffentlichkeit stark beachtetes Bekenntnis zur deutschen Schuld am Massenmord an den Juden zu sprechen. Es ist absehbar, daß 50 Jahre danach die Synode im Verlauf ihrer Tagung 2000 auf dieses Thema zurückkommen und sich um weitere Verdeutlichung bemühen wird.

Wäre es nach Gustav Heinemann gegangen, gäbe es im staatlichen Bereich keine Eidesleistungen mehr. Und keine Diskussionen über die religiöse Eidesform. Eine dem staatlichen Bedarf angemessene Bekräftigungsformel wäre - mit gleichen Rechtsfolgen - an die Stelle des Eides getreten.

Wie Heinemann in der Politik mit aller Kraft an Chancen für die Wiedervereinigung Deutschlands festhalten und sie genutzt sehen wollte, so hat er auch im kirchlichen Amt die Akzente gesetzt. Immer wieder betonte er in seinem Präsesamt die gesamtdeutsche Funktion der EKD-Synode, "weil ja allemal politische Grenzen keine kirchlichen Grenzen sind." Gelegenheiten zu Vorträgen in der DDR nutzte er nach Kräften und unterhielt langjährige persönliche Beziehungen zu Kirchenleuten im Osten.

Der evangelischen Kirche hat Gustav Heinemann viele Jahrzehnte lang in einer ganzen Reihe von Funktionen umfangreiche und wertvolle Dienste geleistet. Aus der Kirche ist er in die Politik gekommen, Mann der Kirche ist er zeitlebens geblieben. Die Prägekraft des Christentums hat er in die politische Kultur des friedlichen und gedeihlichen Zusammenlebens in der Demokratie wirkungsvoll und überzeugend eingebracht.

Hannover, 7. Juli 1999
Pressestelle der EKD