Ansprache anläßlich des Johannisempfangs des Bevollmächtigten des Rates in Bonn

EKD-Ratsvorsitzender, Präses Manfred Kock

24. Juni 1999

Es gilt das gesprochene Wort!

In der Bibel ist viel davon die Rede, daß Menschen unterwegs sind. Von Bonn bis Berlin ist nichts dagegen. So heißt es von Abraham: Er verließ seine Heimat Ur in Chaldäa und zog in eine neues Land, das Gott ihm zeigen wollte. Über viele Generationen ist das Volk, das Abraham zum Vater hat, in der Fremde unterwegs.

Der Auszug aus Ägypten führte die Nachkommen Sarahs und Abrahams über lange Zeiten durch die Wüste - bis der Weg sie ans Ziel brachte, in das gelobte Land, "wo Milch und Honig fließen".

Diese Erzählungen hat die Kirche später auch auf ihr eigenes Wesen bezogen: Sie verstand sich als das "wandernde Gottesvolk", das unterwegs ist, das sich nicht aus Bequemlichkeit mit Zuständen arrangiert, die dem Willen Gottes nicht entsprechen, das sich nicht abfindet mit Gegebenheiten und Sachzwängen.

Ob die Wegstrecken weit oder nah sind, ob sie freiwillig oder widerstrebend gegangen werden - immer gilt für Menschen, die sich auf den Weg machen, die Zusage Gottes: "Siehe ich will mit dir sein und dich behüten, wo du hinziehst." (1. Mose 28,15)

Diese Gewißheit kann auch über dem Umzug von Bonn nach Berlin stehen.

Bundespräsident Herzog hat vor kurzem einmal gesagt: "Der Umzug vom Rhein an die Spree ist für die Bundespolitik ein Ortswechsel, kein Richtungswechsel." Er hat damit die politische Kontinuität hervorgehoben: Das Schlagwort von der "Berliner Republik" soll und darf nicht eine Entwicklung anzeigen, in der die Koordinaten deutscher Politik völlig neu bestimmt werden.

Heute vor einem Monat haben wir uns dankbar erinnert an die Verkündung des Grundgesetzes vor 50 Jahren. Ich habe bei dieser Gelegenheit betont, daß wir alle zusammen in der Pflicht sind, die im Grundgesetz enthaltenen Überzeugungen vor der Aushöhlung durch Gleichgültigkeit zu bewahren, sie in Krisenzeiten zu bewähren, sie vor dem Zugriff von Partikularinteressen zu schützen und sie im Bemühen um Gerechtigkeit zu festigen. In diesem Sinne gilt es beim Wechsel von Bonn nach Berlin für politische Kontinuität einzustehen. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe.

Da tut es gut, zu wissen, daß es eine Kontinuität gibt, für die wir nicht zu sorgen brauchen: die Kontinuität der Nähe und des Beistandes Gottes, die Verläßlichkeit seiner Verheißungen, die unbedingte Geltung des Angebots seiner Gnade.

Das ausdrücklich und in aller Öffentlichkeit auszusprechen ist heute nötiger als in früheren Jahren.

Deutschland ist in den vergangenen Jahrzehnten pluraler und säkularer geworden. Die Zeiten, in denen die Zugehörigkeit zu einer Kirche selbstverständlich war, sind vorbei. Ich sage das ohne Wehmut, denn Pluralität bietet immer auch die Chance der Freiheit.

Niemand sollte ernsthaft die Zeiten zurückwünschen, in denen staatlicher Zwang und sozialer Druck die Zugehörigkeit zu einer Religion oder Konfession bestimmte. Die Selbstverständlichkeit der Mitgliedschaft in einer Kirche kann die Substanz und die Dynamik des christlichen Glaubens auch verdecken.

Die Menschen stehen heute vor der Frage, woher sie die notwendige Orientierung für ihren Lebensweg beziehen sollen. Sie können ja die Grundmuster ihres Zusammenlebens nicht jeweils neu erfinden. Man kann sich zwar wie in einem großen Selbstbedienungsladen aus unterschiedlichen Weltanschauungen und Traditionen willkürlich religiöse und moralische Versatzstücke auswählen, aber eine Grundlage von allgemeiner Verbindlichkeit ist so nicht zu finden.

Pluralismus, der sich selbst absolut setzt, führt in ein Dilemma. Denn lautstarke weltanschauliche Minderheiten könnten dann, unter dem Vorwand der Religionsfreiheit Mehrheiten terrorisieren, wenn Regulative schon als Verstoß gegen das Selbstverständnis des Pluralismus angesehen würden.

Religiöse und weltanschauliche Auseinandersetzungen lassen sich - auch im weltanschaulich neutralen Staat - nicht nach dem Angebots- und Nachfragemuster des Waren- und Dienstleistungsmarktes handhaben. Gerade der Respekt vor der Freiheit der persönlichen Überzeugung und der Schutz des einzelnen Gewissens vor dem Anspruch religiöser Dogmen verlangen Beschränkungen, die für alle verbindlich gelten. Nur so kann die Glaubens- und Gewissensfreiheit gewährleistet bleiben. Dies entspricht guter protestantischer Überzeugung und hat sich seit dem Ende der Religionskriege in Europa bewährt.

In der offenen, demokratisch verfaßten, pluralen Gesellschaft geht es um die Balance zwischen individueller Freiheit und den fundamentalen Werten, die das ganze Gemeinwesen tragen. Diese können nicht vom Staat gewährleistet werden. Auch in Zukunft bleibt das kulturelle und ethische Erbe des christlichen Glaubens ein Garant für die Werteordnung des Grundgesetzes. Die Kirchen müssen bei ihren Entscheidungen und in ihren Stellungnahmen allerdings ebenso wie jede einzelne Christin und jeder einzelne Christ einleuchtend machen. Welche guten Gründe des Glaubens für ihre Positionen sprechen. Was sich nicht mehr von selbst versteht, muß neu bedacht und dann den Menschen nahegebracht werden. Das ist eine bleibende Herausforderung für die christlichen Kirchen und es ist zugleich ihre Chance, ihre Botschaft in persönlichen Begegnungen und im öffentlichen Diskurs immer wieder ins Gespräch zu bringen.

Der Umzug von Bonn nach Berlin ist ein Weg von West nach Ost. Der Historiker Heinrich August Winkler hat die damit verbundene Konsequenz deutlich benannt: "Von Berlin aus betrachtet dürfte auch das Bild von Europa neue Züge annehmen. Der Neigung, den alten Kontinent mit Westeuropa gleichzusetzen, kann man an der Spree weniger fröhnen, als es am Rhein mitunter möglich war. Polen, Tschechien und Ungarn sind historisch ein Teil des Westens: Es ist an der Zeit, eine verengte Sicht von Europa, die aus dem 'Kalten Krieg' stammt, zu überwinden."

Im Angesicht des Krieges in Jugoslawien muß man noch einen Schritt weitergehen: Wir können es uns um des Friedens willen nicht leisten, auf dem Balkan zwar den Verbrechen gegen die grundlegenden Menschenrechte mit Waffengewalt entgegenzutreten, aber die Länder und Völker dieser Region im Blick auf ihre wirtschaftliche und demokratische Entwicklung sich weitgehend selbst zu überlassen. Ich habe mit Aufmerksamkeit und Zustimmung die Überlegungen registriert, den Ländern und Völkern in dieser Region im Rahmen der Europäischen Union unter den Bedingungen der Demokratie zu mehr Stabilität zu verhelfen.

Europa ist größer als die Europäische Union. Der Balkan gehört zum europäischen Haus. Der Umzug von Bonn nach Berlin läßt auch die Entfernung zum Osten nicht nur geographisch schrumpfen. Die Perspektive auf Europa ändert sich und wird sich weiter ändern. Der explosive Konflikt in Jugoslawien hat gezeigt, daß ohne Einbeziehung Ost- und Südosteuropas und nicht zuletzt Rußlands eine stabile Friedensordnung in Europa nicht möglich sein wird.

Aber machen wir uns nichts vor: Eine Realisierung solcher Überlegungen setzt voraus, daß die Bereitschaft in der Bevölkerung der EU-Staaten geweckt wird, die entstehenden Belastungen auf Dauer zu tragen. Mit einer solchen Bereitschaft ist es in Teilen unserer Bevölkerung nicht zum Besten bestellt, denn das kostet etwas. Wenn die westlichen Regierungen bereit waren, im Rahmen völkerrechtlicher Nothilfe exorbitante Geldbeträge für die Anwendung militärischer Gewalt aufzuwenden , müssen sie jetzt auch die Mittel für die Förderung der wirtschaftlichen und demokratischen Entwicklung bereitgestellt werden. Hoffentlich gelingt es, diese Konsequenz in unserer Bevölkerung zu vermitteln.

Die Verschiebung des Regierungssitzes und des Parlamentsstandortes von West nach Ost, von Bonn nach Berlin, hat auch eine unmittelbare Auswirkung auf den Umgang mit den innerdeutschen Fragen.

Nicht, daß es von Bonn aus sensible Wahrnehmungen der Verhältnisse im Osten nicht gegeben hätte; auch nicht, daß mit dem Umzug nach Berlin alles wie von selbst anders und besser werden wird mit der Vertiefung und Vollendung der inneren Einheit - aber wir wissen aus eigener Lebenserfahrung sehr gut: Was räumlich fernliegt, kann man auch innerlich auf Abstand halten. Was einem hautnah rückt, das berührt einen tiefer. So wird der Umzug von Parlament, Regierung und Administration dem weiteren Zusammenwachsen unseres Landes dienen.

Kontinuität und Wandel beim Umzug von Bonn nach Berlin - das betrifft auch die Evangelische Kirche in Deutschland. Auch in Berlin wird es einen Bevollmächtigten des Rates geben. Er hat sein Quartier an einem wunderschönen Platz. Sie, meine Damen und Herren, werden dort eine ganze Reihe vertrauter Gesichter wiedersehen, spätestens beim nächsten Jahresempfang am Gendarmenmarkt.

So viel zur Kontinuität. Im Blick auf die Person des Bevollmächtigten selbst aber wird es einen Wandel geben. Mit dem Umzug von Bonn nach Berlin verläßt Bischof Dr. Löwe die Kommandobrücke. Er bleibt als Militärbischof in Bonn. Sein Nachfolger im Amt des Bevollmächtigten, Prälat Dr. Stephan Reimers, schnuppert heute schon einmal die Luft des Jahresempfangs. Er wird ab Oktober Hausherr am Gendarmenmarkt und als Bevollmächtigter des Rates Sachwalter der Evangelischen Kirche in Deutschland und Ihr künftiger persönlicher Ansprechpartner sein.

Doch heute ist noch nicht die Stunde der Verabschiedung, der Würdigung, des Dankes. Dazu werden wir Sie rechtzeitig vor dem für den am 7. Oktober in Berlin geplanten Festakt einladen. Heute genießen wir ein letztes Mal die unverwechselbare Atmosphäre des Johannisempfangs im beschaulichen Bonn, das in den 20er Jahren noch in Reiseführern als die "liebliche Musenstadt am Rhein" bezeichnet wurde, in der sich herrlich "dösen" läßt. ...