Aufruf zur Ökumenischen Dekade "Gewalt überwinden" im Rahmen des 28. Deutschen Evangelischen Kirchentages in Stuttgart

EKD-Ratsvorsitzender, Präses Manfred Kock

18. Juni 1999

Alles Leben auf unserer Erde ist durch Gewalt bedroht. Das Leben von Menschen, von Tieren, von Pflanzen, selbst die Existenz unseres Planeten. Der Krieg um den Kosovo hat uns die zerstörerische Macht der Gewalt wieder vor Augen geführt. Fast eine Million Menschen wurden vertrieben, es wurde vergewaltigt und gemordet. Städte wurden verwüstet, Dörfer dem Erboden gleichgemacht. Kosovo ist das jüngste Beispiel maßloser Gewalt; es steht in einer Reihe mit Afghanistan, Ruanda, Angola.

Nicht so spektakulär geht es in unseren Städten zu, in Dörfern und Häusern auch. Gewalt ist allgegenwärtig. Gegen Personen geht es und gegen Sachen. Frauen und Kinder werden mißhandelt, es gibt Kriminalität unter Erwachsenen und Jugendlichen; mit Bestürzung hören wir immer wieder von Anschlägen gegen Fremde und Asylsuchende. Manche von uns sind Opfer und einige vielleicht auch Täter. Schon als Zuschauerinnen und Zuschauer sind wir beklommen, fühlen oft hilflose Ohnmacht. Viele von uns haben weggesehen und betreten geschwiegen, wenn Menschen vor unseren Augen gequält wurden. "Krieg darf nach Gottes Willen nicht sein". Das bekannte die Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1948 in Amsterdam. Heute, mehr als 50 Jahre später, sagen wir: Jede zerstörerische Gewalt darf nach Gottes Willen nicht sein. Wir berufen uns dabei auf den Schöpfungsauftrag Gottes, die Erde zu bebauen und zu bewahren. Und wir berufen uns auf Jesus von Nazareth, der Gottes Liebe zu jedem einzelnen gequälten Menschen darstellt. In der Bergpredigt hat er in geradezu provozierender Weise die Logik der Gewalt in Frage gestellt und die Friedensstifter selig gepriesen.

Wie finden wir die Wege zur Überwindung von Gewalt? Wie können wir eine so große und komplexe Aufgabe bewältigen? Wo fangen wir an?

Vor einigen Jahren hatte der Ökumenische Rat der Kirchen das Programm zur Überwindung von Gewalt beschlossen. In einer ersten Kampagne wurden dabei sieben Städte in aller Welt ausgewählt, in denen kirchliche Gruppen gemeinsam mit anderen Initiativen darum ringen, die alltägliche Gewalt zu hinterfragen und zu überwinden. Das war ein kleiner Anfang. Aber von den Geschichten dieser sieben Städte, von ihren erfolgreichen Aktionen haben sich viele anstecken lassen. Deshalb hat die Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen im Dezember 1998 in Harare beschlossen, eine "Dekade zur Überwindung von Gewalt" auszurufen. Ich rufe die Kirchen in Deutschland dazu auf, sich an dieser Kampagne zu beteiligen! Es ist eine große Aufgabe, eine große Herausforderung, vor der wir in den nächsten zehn Jahren stehen. Sind die theologischen Fragen in der Auseinandersetzung um Krieg und Frieden, um Waffen und Rüstungshandel, um Möglichkeiten von gewaltfreier Existenz in Kirche und Gesellschaft umfassend geklärt? Kann Gewalt tatsächlich "überwunden" werden oder ist es naiv, sich hierfür einzusetzen?

Ich rufe unsere Kirchen und Gemeinden, ich rufe uns alle dazu auf, noch mehr Zeichen zu setzen gegen die Gewalt. Menschen haben in ihrer Entwicklungsgeschichte jahrtausendelang gelernt, Gewalt anzuwenden. Es mag daher mühsam sein, aber wir Menschen müssen lernen, wie Konflikte ohne Gewalt zu lösen sind. Dazu gilt es, die Angst vor der Gewalt zu überwinden. Menschen müssen lernen, nicht mehr wegzusehen, wenn Gewalt unter uns geschieht. Unsere Kirchen müssen Orte sein, an denen Christinnen und Christen mit ihrem Reden und Tun, ihrem Beten und Arbeiten dafür Zeugnis geben, wie stark die Gewaltlosigkeit ist. Unsere Gemeinden können Orte werden, an denen Gewaltlosigkeit geübt und gelernt wird. Es muß möglich sein, daß sich etwas ändert in unserem Land und in unserer Welt! Arbeiten Sie alle mit an dieser ökumenischen Bewegung gegen die Gewalt! Füllen Sie diese Dekade mit Leben und zögern Sie nicht zu lange. Die Sache ist dringend und die Zeit drängt!

Manfred Kock

Hannover, den 18. Juni 1999
Pressestelle der EKD